Welches Ziel, welcher Plan?

Ob Flüchtlinge kommen oder nicht, können wir uns nicht aussuchen. Ob wir sie lebensgefährlicher Kälte aussetzen, schon.

John F. Kennedy hatte definitiv das, was man Führungskraft nennt. Er war charismatisch und vermittelte den Eindruck, dass erstens Probleme dazu da sind, gelöst zu werden und dass zweitens genau er der richtige Mann ist, dies zu tun. Folgende Fragen stellte Kennedy einmal: Haben Sie ein Ziel und einen Plan dazu? Wenn ja, verfolgen Sie beides konsequent?

Ich stelle diese Fragen heute den politischen Eliten: Haben Spitzenvertreter von Bund, Ländern und Gemeinden ein gemeinsames Ziel und einen Plan dazu? Eine Antwort müsste entschlossen und einheitlich ausfallen, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern. Tut sie nur leider nicht.

Die Herausforderungen sind bekannt: 2015 erwartet Österreich bis zu 90.000 Asylwerber. Das sind dreimal so viele wie im Vorjahr. Nur Schweden nimmt in Relation zur Bevölkerung mehr Schutzsuchende auf, rund doppelt so viele wie Österreich. Seit Jahresbeginn haben Bund, Länder und Gemeinden bereits 45.000 Unterbringungsplätze für Asylwerber neu geschaffen. Und trotzdem reicht es nicht.

Die Anzahl der gestellten Asylanträge liegt beständig über der Anzahl der zur Verfügung gestellten Quartiersplätze. Die Folge: 7000 Asylwerber sind derzeit in Transitquartieren untergebracht. Diese wurden geschaffen, um durchreisende Flüchtlinge kurzfristig zu beherbergen und waren nie für eine dauerhafte Belegung ausgelegt. Die Alternative für die dort untergebrachten schutzsuchenden Menschen ist die Obdachlosigkeit.

Zelte als ultima ratio

Angesichts dieser Tatsachen hat der Flüchtlingskoordinator der österreichischen Bundesregierung bei der UNO schon beheizbare Großzelte für bis zu 20.000 Personen vorbestellt. Zelte konnte sich die Regierung immer nur als ultima ratio vorstellen. An diesem Punkt sind wir offensichtlich angelangt. Haben Bund, Länder und Gemeinden alle Möglichkeiten ausgelotet? Bieten 80 Kasernen in Österreich oder leerstehende Krankenhäuser und Pflegeheime wirklich keine zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten? Und wie ist es zu erklären, dass jede zweite Gemeinde in Österreich noch keinen Asylwerber aufgenommen hat?

Die aktuelle Situation schreit geradezu nach politischer Führungskraft. Die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung und der zivilgesellschaftlichen Organisationen wäre den Verantwortlichen sicher. Führungskraft wird in der Regel angenommen und anerkannt – siehe Kennedy. Es ist nur zu hoffen, dass es dazu keinen Weckruf in der Gestalt des ersten erfrorenen Flüchtlings-Babys braucht.

Das Verharren in den jetzigen Strukturen und Prozessen wird die Probleme nicht lösen. Es braucht mutige Ideen. Warum nicht – in einer Phase eines konjunkturellen Abschwungs – eine Wohnbauoffensive starten und dabei österreichweit gleich Wohnraum für 50.000 Asylwerber mitplanen? Und parallel dazu entsprechende Investitionen im Integrationsbereich festlegen – für jene 40 Prozent der Asylwerber, denen der Flüchtlingsstatus zuerkannt werden wird.

Für solche Würfe braucht es aber Mut und Zusammenarbeit. Und weil in letzter Zeit so oft von Zäunen die Rede war: Es wäre der Sache sicher dienlich, zunächst einmal die (geistigen) innerösterreichischen Zäune niederzureißen – dann Mut an den Tag zu legen und zusammenzuarbeiten.

Dr. Werner Kerschbaum (*1952) ist Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2015)

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