Kurden wollen mehr Eigenständigkeit auf lokaler Ebene

Wenig Aussicht auf Frieden – im Südosten der Türkei droht ein Bürgerkrieg.

Die von der EU als sicherer Drittstaat bezeichnete Türkei nähert sich mit großen Schritten einem Bürgerkrieg. In Dutzenden kurdisch besiedelten Städten im Südosten des Landes herrscht Ausnahmezustand. Belagerungen, Ausgangssperren, massenweise Festnahmen von Oppositionellen sowie Straßenschlachten mit der kurdischen Jugendbewegung zählen seit Juli 2015 zum Alltag in Kurdistan. Bereits 200.000 Menschen sind laut offiziellen Angaben auf der Flucht, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht beklagt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) die Ermordung kurdischer Zivilisten – Frauen, Kinder und ältere Personen – durch Sicherheitskräfte. HRW wirft dem türkischen Staat Rücksichtslosigkeit gegenüber den Anrainern vor und fordert eine unabhängige Untersuchung zur Todesursache von zivilen Opfern. Der Menschenrechtsverein (IHD) und die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) berichteten kürzlich von 171 getöteten Soldaten, Polizisten sowie Paramilitärs, 195 Rebellen und 157 Zivilisten seien ebenfalls ermordet worden.

Erdoğan gießt mit seiner Drohung am Jahresende, dass im Jahr 2016 die Sicherheitskräfte „die Berge als auch die Städte Meter für Meter von den Terroristen säubern“ werden, noch mehr Öl ins Feuer und gibt den Kurden keine große Hoffnung für die Zukunft. Dabei setzten viele Menschen in der Türkei große Hoffnungen in eine friedliche Lösung der Kurdenfrage, die mit einer demokratischen Verfassung einhergehen sollte.

Neuer Waffenstillstand

Nach Dutzenden gescheiterten Verhandlungsversuchen zwischen türkischen Vertretern und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wurde 2013 eine neue Phase eingeleitet. Öcalan rief mit den Worten ,,die Waffen sollen endlich schweigen, Gedanken und Politik sollen sprechen“ zu einem Waffenstillstand auf und machte damit Hoffnungen auf ein Ende des Kurdenkonflikts in der Türkei. Nach zwei Jahren mühevoller Verhandlungen zwischen Regierungsvertretern, Öcalan und der PKK wurde der Eindruck erweckt, man hätte sich auf einen gemeinsamen Pfad geeinigt.

Sodann wurde in Anwesenheit der Abgeordneten der pro-kurdischen HDP und dem Stellvertreter des türkischen Ministerpräsidenten Yalçin Akdoğan die Absichtserklärung des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vor der Presse verlesen. Es wurden zehn Verhandlungspunkte vorgestellt, auf die sich die Regierungsvertreter und der PKK-Vorsitzende Öcalan verständigt haben. Der nächste Schritt sollte eine Verfassungsänderung bilden, auf die eine Entwaffnung der PKK folgen würde.

Undurchsichtiges Agieren

Trotz fortlaufender Verhaftungswellen gegen kurdische Politiker und Angriffe auf Stellungen der PKK in der Türkei im Nord-Irak wollte die kurdische Seite die Verhandlungen nicht für beendet erklären. Auch das undurchsichtige Agieren des türkischen Staates gegen den IS und die Belege über die Unterstützung der Islamisten durch die Türkei haben die kurdische Seite nicht daran gehindert, an friedlichen Verhandlungen festzuhalten. Schließlich war es der türkische Präsident Erdoğan selbst, der sich im April letzten Jahres von der Politik einer Aussöhnung mit den Kurden, die er selbst eingeleitet hatte, distanzierte.

Die Folgen sind verheerend für die Kurden und für die ganze Region. Angesichts der Unterdrückungspolitik des Erdoğan-Regimes haben sich Kurden für eine demokratische Selbstverwaltung ausgesprochen. Die kurdische Seite will ihre Forderung nach mehr Eigenständigkeit auf lokaler Ebene durch selbstverwaltete Stadtteile verwirklichen. Sie sind bereit für die Fortführung der Verhandlungen, werden aber nicht eine Besinnung Erdoğans abwarten.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und Soziologe sowie Vorstandsmitglied des Rates der Kurdischen Gesellschaft (FEYKOM) in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2016)

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