Umkehr der Wanderungsdynamik ist machbar

Es geht darum, die Ein- und Auswanderungsbilanz insgesamt umzudrehen. Das Ziel auf EU- wie auf der nationalen Ebene sollte es sein, dass mehr Migranten den europäischen Raum wieder verlassen als in ihn eindringen.

Rund 1,4 Millionen Kriegsflüchtlinge, Wirtschaftsmigranten und als spezifische Personen Verfolgte reisten 2015 in den EU-Raum ein. Letztere, die laut Genfer Konvention ein Anrecht auf Asyl haben, waren die Minderheit unter den Angekommenen, während etwa die Wirtschaftsflüchtlinge bis Jänner 2016 bereits 40 Prozent ausmachten.

Ganz offensichtlich wurde und wird das Asylrecht zur Masseneinwanderung missbraucht. Als Folge des Zustroms gelangten größere Teile der politischen Führung in den betroffenen Ländern zögerlich zu der Erkenntnis, dass dieser wirtschaftlich und kulturell nicht verkraftbar sei. Für Realitätsresistenzen blieb bei einzelnen Politikern wie der deutschen Bundeskanzlerin und bis vor Kurzem ihrem österreichischen Regierungskollegen zwar weiterhin Raum, dennoch wurden erste Maßnahmen auf den Weg gebracht.

Instabilität programmiert

In Österreich etwa sollen bis 2019 nicht mehr als 127.500 neue Asylanträge angenommen werden, für 2016 ist eine Obergrenze bei maximal 37.500 vorgesehen. Etwa 50.000 Einwanderer, deren Asylansuchen abgelehnt wurde, sollen ebenfalls bis 2019 wieder rückgeführt werden. Flankierend sind die Erschwerung des Familiennachzuges, die Reduzierung der Mindestsicherung und verstärkte Grenzkontrollen vorgesehen. Österreich soll für Wirtschaftsflüchtlinge weniger attraktiv erscheinen. Soweit die Ankündigungen.

Selbst wenn die Umsetzung der Pläne gelingt, geht das sich auf ihrer Basis abzeichnende Szenarium dennoch in Richtung einer dauerhaften Destabilisierung. Bis Ende 2019 wäre Österreich mit rund 200.000 Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten bevölkert (die 2015 Eingetroffenen, nicht Abgeschobenen etc. sind in die Betrachtung einzubeziehen).

Da Österreich schon jetzt fast 500.000 Arbeitslose hat, wird evident, dass der größte Teil der bis 2019 Asylberechtigten nicht in Arbeit zu bringen ist. Damit aber bricht die entscheidende Grundlage der viel beschworenen Integration weg. Hält man sich weiterhin vor Augen, dass durch die Digitalisierung der Wirtschaft bis 2035 europaweit mehr als 40 Prozent aller Arbeitsplätze verschwinden werden, ist nicht zu erkennen, wie ausgerechnet in Österreich die Integration Hunderttausender schlecht qualifizierter Einwanderer erfolgreich vor sich gehen könnte.

Viel wahrscheinlicher ist die dauerhafte Herausbildung einer Masse von Mindestsicherungsbeziehern oder Billigarbeitern, die ihre überzogenen Erwartungen enttäuscht sehen. Die Schuld daran werden nicht wenige dem österreichischen Staat, seiner Gesellschaft und seinen Werten zuschreiben.

Hat man die Entwicklung der Vororte von Paris und anderer französischer Städte über die vergangenen Jahrzehnte hin verfolgt, lässt sich erkennen, dass nun auch Österreich die Voraussetzungen für die Entstehung islamischer Parallel- und Gegengesellschaften schafft. Für andere vom Massenzuzug betroffene Zielländer erscheinen die Aussichten ebenfalls nicht günstiger.

Effektive Gegenmaßnahmen

Vollends zur Makulatur werden die jetzt in Europa implementierten Steuerungsmaßnahmen angesichts der Tatsache, dass allein für 2016 mit etwa 1,5 Millionen Einwanderern gerechnet wird. Sie alle einreisen zu lassen, um sie hernach wieder mühsam, kostenintensiv und nur zum Teil in ihre Heimatländer zurückzuführen, erscheint als wenig sinnvolle Lösung.

Es geht vielmehr darum, die Ein- und Auswanderungsbilanz insgesamt umzudrehen. Das Ziel auf EU- und auf Staatenebene muss es sein, dass mehr Migranten den EU-Raum verlassen als in ihn eindringen. Aus den jüngsten Erfahrungen sowie den Erkenntnissen aus dem Fluchtgeschehen vom Balkan in den 1990er-Jahren lässt sich in Grundzügen eine erfolgversprechende Strategie ableiten. Den bisher vernachlässigten Anziehungsfaktoren ist dabei größeres Gewicht beizumessen.

Etablierte Balkanroute

Erst wenn Transportkapazitäten günstig und leistungsfähig zur Verfügung stehen, erst wenn die Einreise nach Zentraleuropa ohne jede Schwierigkeit möglich ist, erst wenn Sozialsysteme lockender Zielländer zur Nutzung à la carte offenstehen und erst wenn auch die Information darüber im Ursprungsland leicht verfügbar ist – erst dann wird es zu Masseneinwanderung wie derzeit kommen.

Ohne jede Frage sind die Anschubfaktoren wie Bürgerkrieg, politische Verfolgung, Hungersnöte oder wirtschaftliche Stagnation wirkungsmächtig. Sie allein rufen jedoch nicht notwendigerweise eine Massenbewegung in Richtung weit entfernter Zielländer hervor.

So ist beispielsweise Afghanistan seit 1979 Schauplatz von Bürgerkriegen und militärischen Interventionen. Dennoch ist das zahlreiche Erscheinen afghanischer Asylbewerber in Mitteleuropa ein relativ neues Phänomen. Derzeit machen sich täglich rund 5000 junge Männer auf den Weg nach Europa. Der derzeitige EU-Ansatz, den Krieg in Syrien zu beenden, den Irak zu stabilisieren etc. wird bestenfalls mittelfristig Druck aus der Situation nehmen.

Da aber die Route über den Balkan bereits etabliert ist, wird sich kurzfristig nichts am Wanderungsgeschehen ändern.

„Flucht“ als Investition

Generell kristallisiert sich gerade ein neuer Typus des „Flüchtlings“ heraus. Es handelt sich mehrheitlich um jüngere Männer, die nicht überstürzt vor dem Zugriff übler Regimeschergen fliehen. Stattdessen wird die Reise nach Europa entweder im Herkunftsland oder einem vorläufigen Zufluchtsstaat geplant und wirtschaftlich durchkalkuliert. Das für Schlepper, falsche Pässe etc. eingesetzte Geld hat eher den Charakter einer Investition, die sich bei gelungener Einreise in einen europäischen Sozialstaat sehr rasch amortisiert.

Die Reduzierung von sozialen Wohltaten verlängert für den Investierenden nur die Frist, bis sich der Geldeinsatz bezahlt macht, schreckt ihn jedoch nicht ab. Aus der Sicht jener Afghanen, Syrer oder Maghrebiner, die noch in der Herkunftsregion verweilen, erscheint bisher jede „Flucht“ eines Bekannten als Erfolgsgeschichte. Dadurch ermutigt machen sich die Nächsten auf den Weg.

Sobald jedoch in den Ausgangsländern der Wanderungsbewegung erkennbar wird, dass die große Mehrzahl der Einreisen scheitert, werden sich deutlich weniger Menschen in Bewegung setzen. Daher sind in Zentraleuropa und den vorgelagerten Balkanstaaten Maßnahmen zu setzen, die vor allem in den Ursprungsländern eine klare Signalwirkung entfalten: von der konsequenten Rückführung über die Verhinderung der Einreisen bereits in der Ägäis bis zur Errichtung von Grenzzäunen und Sicherungssystemen auf dem Balkan und entlang der österreichischen Grenze.

Nur jene Kriegsflüchtlinge, die schon in Europa sind, sollen mit dem Status des temporären Schutzes bleiben können. Alle weiteren sind in der Region zu versorgen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Christoph H. Benedikter (*1966 in St. Pölten ) studierte
u. a. Geschichte in Wien. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien – Raabs sowie freier Ausstellungskurator. Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen auf außen- und sicherheitspolitischen Fragestellungen sowie der Zeitgeschichte. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2016)

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