Flüchtlinge: Nein zu Obergrenzen

Grenzen sollen an Idealen ausgerichtet sein. Zum spannenden Verhältnis zwischen Gesinnung und Verantwortung in der Flüchtlingsdebatte – sieben Differenzierungen.

Der Streit ist engagiert und gut. Obergrenze – ja oder nein? Vielleicht bauen ein paar Differenzierungen Brücken über den Graben zwischen den Meinungslagern.


• 1. Das Ideal der Nächstenliebe im Neuen Testament kennt keine Obergrenze. Ebenso die Menschlichkeit. Sie ist universell. Schon gar nicht kann man die Nächstenliebe von der Fernstenliebe trennen. Das würde aus ihr eine Art Rudelegoismus machen. Rettet also das Christliche im Abendland!


• 2. Zugleich sind die Möglichkeiten des Einzelnen wie eines Gemeinwesens von Haus aus begrenzt. Österreich kann nicht alle syrischen, afghanischen, irakischen, eritreischen, afrikanischen Kriegs- und schon gar nicht all jene aufnehmen, die aus dauerhaft unüberwindlicher Armut Hoffnungsflüchtlinge sind. Grenzen werden gesetzt: durch Wirtschaftskraft, verfügbare Wohnungen, Arbeitsmarkt, Betreuungsmöglichkeiten (leider), aber auch durch Ängste in der Bevölkerung.


• 3. Was bisher dargelegt ist, nennt die ethische Diskussion Spannung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Dabei ist eine Politik, die diesen Namen verdient, zwar durch die Gesinnung geleitet, zugleich aber durch die begrenzende Realität im Handeln gebunden und zum Gemeinwohl verpflichtet. Das bedeutet auch, dass vom Ideal immer nur ein Fragment realisiert wird. Gemessen an der Realität hat niemand eine weiße Weste.

Die Politik handelt immer innerhalb von Grenzen. Allerdings wird dadurch die Gesinnung nicht überflüssig und außer Kraft gesetzt. Es besteht nämlich auch nach einer Entscheidung über eine Grenze die Pflicht, diese im Sinn des Ideals auszuweiten. Der gefundene Kompromiss ist also stets vorläufig und durch kompetenten politischen Einsatz zu überprüfen und zu verbessern.


• 4. Die eigentliche Kernfrage, an der sich derzeit unausgesprochen die Geister scheiden, ist, wie man zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen kommt. Genau hier differieren derzeit die politischen Zugänge.

Die einen arbeiten sich am Symptom der (wirklich oder befürchtet) zu hohen Zahlen ab. Sie machen aus der angestrebten Begrenzung eine in Zahlen gegossene Obergrenze. Das ist der rasche und einfache Weg.

Andere hingegen sagen: Das ist „bestenfalls“ die letzte mögliche Notmaßnahme. Zuvor ist eine Reihe anderer Maßnahmen erforderlich: Es müssen die Ursachen der Flucht bearbeitet werden. So braucht es einen Waffenstillstand in Syrien und Afghanistan etc. Die legalen wie illegalen Waffenlieferungen müssen umgehend gestoppt werden.

Innerhalb der Kriegsgebiete sind rasch durch die UNO verteidigte Schutzzonen einzurichten – allein in Syrien gibt es derzeit acht Millionen displaced persons. Zu stärken sind die vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR geführten Flüchtlingscamps rund um Syrien. Dort ist für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen zu sorgen: Grundschulen, weiterführende Schulen, Universitäten sind möglich.

Es braucht vor Ort eine Möglichkeit, ohne gefährliche Flucht und ohne Schlepper legal um Asyl anzusuchen. All das wird nicht rasch zu einer Beruhigung der Fluchtwelle führen. Erforderlich sind weit mehr entschlossene Bemühungen zur Ausweitung der internationalen und europäischen Solidarität in die USA, nach Kanada, Australien, Saudiarabien.

Nicht zuletzt ist zu klären, ob unsere Aufnahmegrenzen wirklich schon erreicht sind und wie die Angst vor Flüchtlingen im politischen und medialen Diskurs gemindert statt geschürt werden kann. Für den Wiederaufbau nach dem Krieg ist vorzusorgen. Ohne Marshallplan für Syrien wird es nicht gehen.

Nicht berücksichtigt wird in dieser Liste jener „Globale Marsch“, den die vielen Armen der Welt aus den armen Regionen der Erde in Richtung der nördlichen Reichtumszone bereits angetreten haben. Der Wille, eine gerechtere Welthandelsordnung zu schaffen und die Entwicklungszusammenarbeit zu forcieren, ist rhetorisch bekundet, bleibt aber viel zu oft folgenlos.

Wir werden uns auch überlegen müssen, ob es den Armutsregionen hilft, wenn wir aus ihnen die Gebildeten und Begabten durch unsere Rot-Weiß-Rot- oder Greencard abschöpfen. Diese Menschen nützen uns. Sie schaden aber durch ihr Weggehen dem eigenen Volk und ihrer Kultur. Wir mehren Reichtum hier, verschärfen aber zugleich Armut dort.


• 5. Es existieren diffuse Ängste, die entsolidarisieren: die Angst vor dem sozialen Abstieg oder bei jungen Leuten die Angst, dass junge Asylwerber in der Ausbildung weit engagierter sind als sie und sie unter Druck setzen. Angst führt zur Abwehr, zur einfachen Lösung, zum Hass und zur Gewalt. Zu vermeiden sind jegliche Emotionalisierung und Hysterie. Eine solche wurde nach den Grauslichkeiten in der Silvesternacht in Köln von nicht wenigen gezielt geschürt. Dabei wird verschwiegen, dass Sicherheitsbeamte auf der gesamten Route in schauriger Häufigkeit ihre Macht zum Missbrauch von Frauen ausgenützt haben, wie der Bericht von Amnesty International belegt. Sexualisierte Gewalt von welchen Männern auch immer zerstört die Würde von Frauen und Tätern.


• 6. Das beste Gegengewicht gegen die (diffuse) Angst ist Aufbau von Vertrauen: zuallererst durch eine standfeste und einsichtige Politik, die nicht nur an den Symptomen arbeitet, sondern vorrangig die Ursachen bekämpft. Es braucht zudem eine Rundumbildung der Bevölkerung: In meiner Umfrage über die Flüchtlinge: „Entängstigt euch!“ Patmos 2016, zeigt sich ein interessantes Phänomen. Diejenigen, die Angst haben, meinen, dass „wenn alle Flüchtlinge nach Europa kämen“, der Bevölkerungsanteil der Muslime über 30 Prozent betragen würde. Es braucht (inter-)religiöse Bildung.

Viele fühlen eine irrationale Angst vor einer Islamisierung Europas, haben aber noch nie einen Koran in der Hand gehabt und mit einem islamischen Gläubigen gebetet. Sie wissen nicht, dass die Kirchenlehrerin Teresa von Ávila engen Kontakt mit Sufis ihrer Zeit hatte. Leider wird der Islam durch die Meldungen über den alltäglichen brutalen Terror nur als gewaltförmig wahrgenommen. Der Islam führt Krieg gegen den Islam. So wie in Europa im Dreißigjährigen Krieg das Christentum gegen das Christentum. Gewalt zerstört langfristig die Reputation aller Religionen.


• 7. Nicht zuletzt wird Vertrauen durch Begegnungen geschaffen. Moralische Appelle helfen gar nicht. Das Gesicht eines syrischen Kindes heilt mehr Angst als gutes Zureden. Selbst Handanlegen heilt. Begegnen, gemeinsame kulturelle Feste, beten und essen heilen von jener Angst, die uns unmenschlich und politisch handlungsunfähig macht. In der Bibel steht ganz oft „Fürchtet euch nicht!“ Aber sich nicht zu fürchten, sich zu entängstigen, geht nur im Kraftfeld felsenfesten Vertrauens. Vielleicht Gottvertrauens?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR


Paul M. Zulehner
(77) studierte Theologie und Philosophie in Wien, Innsbruck, Konstanz und München. 1964 wurde er zum katholischen Priester geweiht, 1984 bis 2008 Professor für Pastoraltheologie an der Uni Wien. Vor Kurzem ist sein Buch „Entängstigt euch. Die Flüchtlinge und das christliche Abendland“ im Patmos-Verlag erschienen. [ Michaela Seidler]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.