Es gilt, die Potenziale der Flüchtlinge für uns alle zu nützen

Der Zuzug Zehntausender könnte auch als Chance aufgefasst werden.

Neue Herausforderungen erfordern neue Betrachtungsweisen und Regeln. Das gilt ganz besonders für die Situation nach dem großen Flüchtlingszuzug des vergangenen Jahres – und ungeachtet dessen, wie viele noch kommen werden. Wir haben Tausende von Kindern und Jugendlichen im Land, die dringend nach unseren Standards ausgebildet werden müssen. Und wir haben Zehntausende Menschen, die medizinisch zu betreuen sind.

Dazu braucht es die entsprechenden Fachkräfte. Also auch Pädagoginnen und Pädagogen, die der Muttersprache dieser Kinder mächtig sind! Es sind viele Lehrerinnen und Lehrer aus Syrien oder aus dem Irak zugewandert. Dieses Potenzial müssen wir nützen.

An unser System heranführen

Natürlich können und dürfen sie ohne die entsprechende und hierzulande anerkannte Ausbildung die Kinder und Jugendlichen nicht allein unterrichten oder gar Klassen übernehmen. Aber wir können sie zu Assistenzleistungen in den Klassen einsetzen und sie so an unser System heranführen.

Viele ältere Menschen sind heute mit großem Engagement freiwillig als Lesepaten oder Klassenpaten in den Volksschulen tätig. Sie lesen oder lernen dort mit den Kindern, sie begleiten sie bei Ausflügen usw. Warum sollten nicht auch Menschen aus den Herkunftsländern der Flüchtlinge hier eine Aufgabe finden? Ohne eine Aufgabenzuteilung liegen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten brach.

Wir müssen auch schleunigst andenken, Arabisch als Fremdsprache zu fördern. Ja, warum denn nicht – genauso wie Englisch, Französisch, Tschechisch oder Chinesisch. Deutsch als Unterrichtssprache muss deswegen nicht aufgegeben werden.

Man weiß, dass Kinder, die in ihrer Muttersprache nicht sattelfest sind, große Probleme haben, eine Fremdsprache und abstraktes Denken zu erlernen. Siehe die vielen türkischen Jugendlichen, die weder die eine noch die andere Sprache voll beherrschen. Den Fehler, den neu Angekommenen keine Chance zu geben, ihre Muttersprache auf Schulniveau zu erlernen, sollten wir nicht nochmals begehen.

Es geht um Unterstützung

Ähnliches gilt für die medizinische Versorgung: Es gibt gar nicht so wenige Ärzte, Pharmazeuten oder Personen aus anderen Gesundheitsberufen unter den Geflohenen. Warum nicht auch diesen Personen so rasch wie möglich eine entsprechende Aufgabe geben? Immer in Begleitung und unter Aufsicht heimischer Ärztinnen und Ärzte oder anderer Spezialisten natürlich.

Gab es nicht schon bisher die Klage, dass es zu wenig Dolmetscher für Spitäler und Ordinationen gibt? Freilich, man hört schon, wie die Ärztekammer und andere Berufsorganisationen dagegen zu wettern beginnen. Aber es geht nicht darum, unsere Standards zu untergraben, es geht darum, unsere Ärzte zu unterstützen und entsprechende Angebote für die Zugezogenen zu schaffen.

Unzeitgemäße Hürden

Auch das Wissen der Gesundheitsexperten sollte erhalten bleiben. Verdammen wir sie zu jahrelanger Untätigkeit, vergeuden wir Potenzial. Vielleicht kann uns auch diese, so sicher nicht geplante, Situation helfen, manche unserer bürokratischen Hürden zu überdenken. Hindernisse und Beschränkungen, die ohnehin nicht mehr zeitgemäß sind, aber ohne Anlass noch viele weitere Jahre bestehen bleiben. Begreifen wir doch in diesem Zusammenhang die Flüchtlingsbewegung als Chance!

Dr. Irmgard Bayer ist Vorsitzende des Verbandes der Akademikerinnen Wien, Niederösterreich und Burgenland.

Monika Posch ist stellvertretende Präsidentin des Club Alpha, Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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