Versuchsstation für den Untergang alter Parteien

Pressestimmen. Zeitungen im In- und Ausland versuchen ihren Lesern die Hintergründe des Rücktritts von Werner Faymann zu erklären.

„DIE WELT“ Ruhmloser Rücktritt

Berlin. „Es muss Gründe geben, warum der unerwartete Rücktritt von Bundeskanzler Werner Faymann, der eigentlich ein Sturz war, die deutschen Gemüter so stark bewegt und im Regierungsviertel die Frage an die Wand projiziert, ob dergleichen auch in Deutschland passieren kann. [. . .] Heute sind tektonische Kräfte am Werk, die alles verändern. Die alte Wahlgeometrie ist dahin, und wenn es so weitergeht auch die Verfassung der Zweiten Republik.

Der ruhmlose Rücktritt des überforderten Politikers – und wer weiß, was noch kommt? – ging jedenfalls nach ungeregeltem Verfahren vor sich. Angst und Zorn schaffen sich in solcher Lage neue andere Legitimität. Karl Kraus nannte einmal das Österreich seiner Zeit ,Versuchsstation des Weltuntergangs‘. So wichtig ist Wien heute nicht – und vor Übertreibungen sei gewarnt. Doch Faymann ist nur das erste Opfer einer Transformation, die noch viel bewegen wird.“

„Wiener Zeitung“ In roten Bahnen

Wien. „Die Verbundenheit der Kleinformate ließ sich der Kanzler mit Steuergeld viel kosten, und der Boulevard dankte es ihm mit wohlwollender bis hymnischer Berichterstattung. Es war dies eine der Achsen, die Faymann vom Wiener Rathaus, wo er als Wohnbaustadtrat von 1994 bis 2006 fungierte, zuerst in das Infrastrukturministerium und schließlich ins Amt des Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers trug. Eine andere waren persönliche Loyalitäten. [. . .]

Faymanns berufliche Karriere bewegte sich ausschließlich im geschlossenen System der roten Politik. Sogar seinen Zivildienst absolvierte er in einer SPÖ-Vorfeldorganisation. Und seine zweite Frau, Martina Ludwig-Faymann, ist Gemeinderätin für die Wiener SPÖ.“

„TAGESANZEIGER“ Faymanns Einflüsterer

Zürich. „Keine Diskussionen zulassen, niemanden einbeziehen: Werner Faymann trat so als österreichischer Kanzler zurück, wie er jahrelang regiert hatte. [. . .] Viel zu lange ignorierte Faymann die ideologischen Gräben in seiner Partei. Die Frage, wie man mit Rechtspopulisten umgehen soll, spaltet die SPÖ. [. . .] Noch mehr Vertrauen verspielte Faymann in der Flüchtlingspolitik. Der Schwenk weg von der Zusammenarbeit mit Deutschland hin zur Abschottung mit Grenzzäunen und Limiten für Asylbewerber verärgerte den linken Flügel der SPÖ, brachte bei den Präsidentenwahlen aber keine Wählerstimmen. [. . .] Die FPÖ holt die Unzufriedenen mit simplen Parolen und Schuldzuweisungen ab. [. . .] Faymann hörte nur auf ein paar Genossen, die er seit Jugendtagen kennt – und auf den Politikchef des Boulevardblatts ,Kronenzeitung‘.“

„OÖ NACHRICHTEN“ Die Partei klein gemacht

Linz „Werner Faymann scheiterte, weil er Politik als visionslosen Machtpragmatismus begriff. Einer seiner größten Irrtümer aber war, sich an den Zeitungsboulevard und hier vor allem an die ,Kronenzeitung‘ zu ketten. Damit hat er sich selbst und seine Partei klein gemacht. Diese Allianz war ein Zeichen der Schwäche – retten konnte sie ihn am Ende auch nicht mehr. Faymann hinterlässt eine mut- und orientierungslose Partei. Dass der bestehende Funktionärsapparat zu einer Erneuerung imstande ist, daran glauben vermutlich nicht einmal eingefleischte Victor-Adler-Plakettenträger.“

„DELO“ Die SPÖ am Abgrund

Ljubljana. „Werner Faymann personifiziert nur die immer stärker gespaltene Partei. Diese hat sich im verzweifelten Versuch, ihre traditionelle Koalition der Arbeiter und der intellektuellen Wähler zu halten, in einer selbstzerstörerischen ,Strategie‘ verfangen. Wenn die Partei dachte, mit einer Verschärfung der Flüchtlingspolitik das ,Proletariat‘ anzusprechen, das überwiegend zur FPÖ übergelaufen ist, so hat sie sich verrechnet. Gleichzeitig hat sie so noch ihre Anhänger unter den liberalen Intellektuellen verloren. Diese könnten zurückkommen, wenn sich die Partei wieder für eine offenere Flüchtlingspolitik einsetzt. Doch vor dem Untergang kann die Sozialdemokratie nur gerettet werden, wenn sie eine Antwort darauf findet, wie sie die verlorenen Seelen der proletarischen Wähler wieder an sich binden kann.“

„Der standard“ Chance für Neuanfang

Wien. „Auch wenn es der Parteivorstand anders sieht: Es spricht viel für eine Trennung von Partei- und Regierungsamt. Österreich braucht einen Regierungschef, der endlich Reformen anpackt: Das Land sackt im internationalen Vergleich weiter ab, es herrscht ein Höchststand an Arbeitslosen, im Bildungs- und Pensionsbereich gibt es seit Jahren Handlungsbedarf. Ein Kanzler mit Managementerfahrung und Gestaltungswillen wie ÖBB-Chef Christian Kern oder Medienmanager Gerhard Zeiler kann diese Probleme anpacken – wenn man ihn lässt. In der eigenen Partei, aber auch in der Koalition gibt es Bremser. Ein fliegender Wechsel zur FPÖ geht sich für die ÖVP derzeit ohnehin nicht aus. Für Parteichef Reinhold Mitterlehner bietet die Neuaufstellung in der SPÖ auch eine Möglichkeit, sich und seine Partei neu zu positionieren.“

„LIDOVÉ NOVINY“ Angestrebter Neustart

Prag. „In einem ruhigen Land wie Österreich treten Spitzenpolitiker nicht ohne Vorwarnung zurück. Aber Bundeskanzler Werner Faymann hat genau dies getan. Er ist zurückgetreten, weil die Regierung seiner Ansicht nach einen Neustart braucht. Mit Neustart verbindet man Schwierigkeiten seit der Zeit, als US-Präsident Barack Obama einen Neuanfang in den Beziehungen zu Russland anstrebte. Der Neustart in Österreich soll die Regierung der etablierten Parteien mitten im Wirbel der Veränderungen schützen. Sie werden von Grünen und Rechtspopulisten an den Rand gedrängt, die sich die Hände nicht schmutzig gemacht haben, als die alten Parteien sich in Großen Koalitionen den Staat untereinander aufgeteilt haben.“

„Kleine Zeitung“ Aufarbeitung des Fiaskos

Graz. „Was die Regierung an Entschlossenheit auf die Waage hätte bringen können, bewies die Kurskorrektur in der Asylfrage: Die Kehrtwende hin zu einer restriktiveren Prophylaxe fiel so brachial aus, dass die Glaubwürdigkeit litt. Der Richtungswechsel kam zu spät, um den Zorn über das zuvor Entglittene zu tilgen. Eine abermalige Schubumkehr wäre ein fataler Lesefehler in der Aufarbeitung des Fiaskos. Christian Kern wird sich hüten.“

„Frankfurter Allgemeine“ Parallele zu Berlin

Frankfurt. „Abgesehen von Faktoren wie Willens- und Charakterstärke, kann man am politischen Schicksal Faymanns auch gut die Problematik ablesen, die einer Großen Koalition innewohnt. SPÖ und ÖVP haben kontinuierlich an Vertrauen, Zuspruch und Wählerstimmen verloren – die Parallele zu Berlin drängt sich auf –, während sich die FPÖ am rechten Rand wählerwirksam als ,echte Alternative‘ in Szene setzte. Faymanns Nachfolger als Kanzler wie als SPÖ-Chef wird die Auseinandersetzung mit der FPÖ suchen und führen müssen. An dieser Auseinandersetzung führt kein Weg vorbei. Überdies ist es gut möglich, dass auch die ÖVP nicht darum herumkommt, den Mann an ihrer Spitze auszuwechseln.“

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2016)

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