Ein gar heftiges Brodeln im Reich der Mitte!

50 Jahre nach Beginn der Kulturrevolution setzt die chinesische Gesellschaft die damaligen Auseinandersetzungen fort.

Am 16. Mai 1966 fasste das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) einstimmig den Beschluss, die „Große Proletarische Kulturrevolution“ zu eröffnen. Wenig später wurden die meisten Mitglieder des Zentralkomitees ihrer Ämter enthoben. Mao warf ihnen vor, China auf den kapitalistischen Weg zu führen. Ob sie zum Zeitpunkt der Abstimmung schon ahnten, dass der Beschluss sie zu Fall bringen würde, oder ob sie meinten, der Kelch würde an ihnen vorübergehen, wissen wir bis heute nicht.

Zehn Jahre später, Mao war am 9. September 1976 gestorben, durfte erstmals offen darüber geredet werden, wie viele Menschen in dieser von Mao gewollten und von der KPCh beschlossenen „Revolution“ auf grausamste Art und Weise ums Leben gekommen waren. 1981, fünf Jahre später, verabschiedete das Zentralkomitee – wieder einstimmig – einen Beschluss. In ihm wurde Mao als Spiritus Rector der Kulturrevolution kritisiert, die Kulturrevolution als fehlerhaft bezeichnet und die „Viererbande“ um die Mao-Witwe Jiang Qing für die gewaltvollen Exzesse verantwortlich gemacht. Deng Xiaoping erklärte die Diskussion für beendet und rief die Bevölkerung auf, sich der Zukunft zu widmen und keine „alten Rechnungen“ zu begleichen.

Die KPCh dreht sich im Kreis

Mit Deng war der Staatsfeind Nummer zwei aus der Kulturrevolution an die Spitze der Volksrepublik gelangt. Die KPCh hatte sich einmal im Kreis gedreht, alle – so schien es damals – waren froh, dass der Spuk vorüber war. Doch 50 Jahre nach dem Beschluss zur Kulturrevolution zeigt sich, dass die Partei noch mehr Kreise zu drehen gewillt ist.

Schon seit einiger Zeit beobachten Kenner der Blog-Szene im Internet, dass dort Kommentare zur Kulturrevolution nicht gelöscht werden, obwohl offiziell die Parole ausgegeben wurde, dass eine Diskussion über die Kulturrevolution aus Anlass des 50. Jahrestages nicht erlaubt sei. Dabei fällt auch auf, dass die Blogger sich keineswegs an den Beschluss der Partei von 1981 halten und die Kulturrevolution kritisieren. Im Gegenteil, sie kritisieren Deng und loben Mao für seine Warnungen vor der kapitalistischen Restauration.

Diejenigen, die auf die brutalen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit verweisen und der Opfer gedenken wollen, haben demgegenüber einen schlechten Stand. Man wirft ihnen vor, das Antlitz der VR China zu beschädigen. Die KPCh, deren Propagandaabteilung noch bis vor Kurzem versuchte, die Diskussion über die Kulturrevolution zu verhindern, kann sich angesichts des offensichtlichen Diskussionsbedürfnisses in der Gesellschaft nicht durchsetzen.

Symptomatisch für das Diskussionsbedürfnis, aber auch für die Brisanz des Themas Kulturrevolution ist eine Auseinandersetzung, die seit Anfang Mai im chinesischen Internet geführt wird. Am 2. Mai hatte aus Anlass der Feierlichkeiten zum Tag der Arbeit in Peking in der Großen Halle des Volkes ein Konzert stattgefunden. Von der Propagandaabteilung des Zentralkomitees der KPCh getragen kam hier eine Vorstellung zustande, bei der ausschließlich Lieder aus der Zeit der Kulturrevolution dargeboten wurden. Mao Zedong wurde als großem Steuermann gehuldigt, so wie die ältere Generation das aus den Jahren 1966 bis 1976 kannte.

Wenn das kein Zeichen für eine Umkehr in der Bewertung der Kulturrevolution war, was sonst? Die Diskussion ging sofort los. Auf der einen Seite die Vertreter und Nachkommen jener Familien, die politisch angegriffen, physisch vernichtet oder zumindest psychisch gequält worden waren. An ihrer Spitze Ma Xiaoli, Tochter eines zu Beginn der Kulturrevolution verfolgten hohen Funktionärs. Sie verteidigt den Beschluss der Partei von 1981 und fordert dessen Einhaltung. Eine solche Darbietung von Kulturrevolutionsliedern wie am 2. Mai dürfe nicht stattfinden. Die Kulturrevolution dürfe nicht beschönigt werden.

Die Blogs laufen fast über

Auf der anderen Seite eine Gruppe von Alt- und Neu-Maoisten. Sie fühlen sich seit jeher marginalisiert, obwohl sie Mao in jeder Phase der Kulturrevolution die Stange gehalten haben. Nun dürfen sie endlich wieder sagen, was sie schon immer dachten: Dass Mao Zedong mit seinen Ideen zur Kulturrevolution recht hatte und dass die Kulturrevolution in ihrem Anspruch, China vor dem Revisionismus zu bewahren, vollkommen richtig war.

Die jeweiligen Blogs laufen fast über, so viele Menschen beteiligen sich an dieser Diskussion. Und dabei wird deutlicher als je zuvor: Die chinesische Gesellschaft kämpft die Kämpfe der Kulturrevolution in der Erinnerung weiter. Alle Kritik und Selbstkritik der letzten Jahre, alle Filme und Romane, Memoiren und (die wenigen) historischen Darstellungen haben nichts bewirkt: Die Menschen wollen sich so, wie sie damals gehandelt haben, bestätigt sehen und tragen den Kurs der Partei, die Kulturrevolution zu negieren, nicht mit.

Alte Feindschaften halten an

Wie kann es möglich sein, dass in einem Land, in dem die Zensur bis in die Formulierungen einzelner Sätze tagtäglich durchgreift, eine Veranstaltung im Gebäude des chinesischen Volkskongresses erlaubt wird, die nicht bis ins letzte Detail geplant, abgesprochen und genehmigt ist? Wenn hier jemand getäuscht haben sollte, dann muss diese Person oder Institution über so viel Macht und Autorität verfügen, dass man wohl eher von einer Intrige als von einer Täuschung sprechen sollte. Nach außen hin muss jedoch, das ist die KPCh sich schuldig, Einheit bewahrt werden. Doch welche Einheit könnte es sein? Einheit in der Ablehnung oder Einheit in der Beschönigung der Kulturrevolution?

Die Auseinandersetzung mit dieser Phase in der chinesischen Geschichte tobt seit jeher, mal offen, mal verdeckt. Die KPCh hat es dabei nie vermocht, ihre Version in der Interpretation der Ereignisse allgemein durchzusetzen – mit dem Ergebnis, dass die Feindschaften aus der Zeit zwischen 1966 und 1976 unterschwellig bis heute weiter existieren.

Mindestens 1,7 Millionen Menschen sind seinerzeit ums Leben gekommen. Noch viel mehr können bis heute nicht vergessen, was ihnen damals angetan wurde. Selbst diejenigen, die sich als Helden der damaligen Zeit betrachten, oder einfach Erinnerungen an Abenteuer, Ungebundenheit und Aufruhr in sich tragen, können diese Phase in ihrem Leben nicht einfach der Vergessenheit anheim geben.

Verklärung der Ereignisse

In einer solchen Situation über lange Jahre hinweg die Kulturrevolution mit einem Tabu zu belegen heißt, der Verklärung der Ereignisse Tür und Tor zu öffnen. Wenn dann noch hinzukommt, dass die Wachstumsmaschine China ins Stocken gerät, Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffen und die Partei über den künftigen Kurs zerstritten ist, dann bietet sich der 50. Jahrestag des Beginns der Kulturrevolution all jenen als Gelegenheit dar, die ihrem Unmut und ihrer Unzufriedenheit legitimen Ausdruck verleihen wollen.

Unzufriedenheit an der Basis und Machtkampf an der Spitze: Es brodelt heftig im Reich der Mitte!

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Susanne Weigelin-
Schwiedrzik
(* 1955) gehört zu den führenden China-Experten der westlichen akademischen Welt. Von der Uni Heidelberg kommend, ist sie seit 2002 Universitätsprofessorin für Sinologie am Institut für Ostasienwissenschaften der Uni Wien. Von 2011 bis 2015 Vizerektorin für Forschung und Nachwuchsförderung. Mehrere Forschungsaufenthalte in China. [ Bruckberger ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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