Über die tragische Dialektik von Freude und Trauer

Selektives Erinnern oder kompensatorisches Vergessen: Eine Betrachtung zur österreichischen Geschichtspolitik.

Der Kalender des Monats Mai weist Termine auf, die für den Umgang der Österreicherinnen und Österreicher mit ihrer eigenen Geschichte bezeichnend sind. Dieser Umgang ist nicht nur eine Sache des Jahres 2016, schließlich ist ja Geschichtspolitik keine kurzfristige, wenn auch eine wandelbare Angelegenheit.

Am 8. Mai beging das Mauthausen-Komitee Österreich zum vierten Mal ein Fest der Freude auf dem geschichtsträchtigen Wiener Heldenplatz, und das offizielle Österreich hielt am 9. Mai im historischen Sitzungssaal des Parlaments den alljährlichen Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus in Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ab.

Unter Bezugnahme auf das Fest der Freude vom Vortag stellte dabei Nationalratspräsidentin Bures in ihrer Begrüßungsrede fest: „Vor wenigen Jahren noch haben sich auf dem Heldenplatz jedes Jahr eine Handvoll Menschen versammelt, die diesem Tag mit Trauer begegnet sind. Aber heute ist rund um die Hofburg kein Platz mehr für Menschen, die die Niederlage der Nationalsozialisten beklagen. Und das ist gut so!“

Schlechte Psychologie

Die Rede klang harsch und zugleich freudvoll. Auf emphatische Weise wurde dieser neuen Freude von einer Politikerin in ihrer Rede am 8. Mai Ausdruck verliehen. Am diesem Tag sei im Blick auf das Kriegsende vor 71 Jahren „Freude“ am Platz, wohingegen „die deutschnationalen Burschenschaften“ mit ihrer vormals am 8. Mai zur Schau getragenen „Trauer“ nicht „Mitgefühl für die Opfer, sondern für die Täter“ zum Ausdruck gebracht hätten; diesen Tätern gelte „ihre Trauer“.

Ungeachtet der Möglichkeit, künftig selbst von einer ähnlichen Insinuation betroffen zu sein, will mir die als Bürgerpflicht oktroyierte Freude nicht recht in den Sinn. Und dies aus zwei Gründen. Erstens handelt es sich hier um schlechte Psychologie. Ich denke da etwa an meinen bereits verstorbenen Kollegen Ota Weinberger, einen aus Prag stammenden und nach 1968 in Graz tätigen Rechtsphilosophen. Er hat die Befreiung 1945 – er war als Jude in Theresienstadt und Auschwitz interniert – keineswegs nur als ein freudiges, sondern als ein ihn zugleich auch mit Trauer erfüllendes Ereignis empfunden, hatte er doch Verwandte und Freunde in den Jahren der Okkupation verloren.

Nicht zufällig waren es Rudolf Gelbard, ein Überlebender der Shoa, und Talya Lador Fresher, die Botschafterin Israels in Österreich, die im Rahmen eines dem Festakt auf dem Heldenplatz vorangehenden Fernsehinterviews auf die tragische Dialektik von Freude und Trauer aufmerksam machten, die mit dem Datum des 8. Mai 1945 verbunden ist. Diese Haltung kontrastiert mit der oft forcierten Freude, die, gepaart mit selektiver Erinnerungskultur, von verschiedenen Mitgliedern unserer politischen Klasse an den Tag gelegt wird.

Hiermit rückt der zweite Grund in den Blick, der zum Zweifel an euphorischer Freude Anlass gibt: die kompensatorisch anmutende Einseitigkeit im aktuellen öffentlichen Gedenken an das Kriegsende. Um möglicherweise mit dieser Feststellung verbundenen Missverständnissen vorzubeugen, sei hier daran erinnert, dass zwischen 1938 und 1945 mehr als 65.000 österreichische Juden und über 35.000 weitere Österreicher ermordet oder aber in Konzentrationslagern oder in Gestapo-Haft ums Leben gekommen sind.

Es war an der Zeit, ihrer gebührend zu gedenken, nachdem lang in der Erinnerung an das Kriegsende die Trauer um die knapp 250.000 zur deutschen Wehrmacht eingezogenen Österreicher, die nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrten, sowie um die mehr als 24.000 bei Luftangriffen oder Kriegshandlungen ums Leben gekommenen Zivilisten das Gedenken an sie überlagert hatte.

Bipolare Sicht der Dinge

Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum – nach dem mitunter schlampig-beschönigenden Umgang mit der eigenen Geschichte – mit der neuen Art des amtlich kultivierten Erinnerns auch ein dazu komplementäres Vergessen einhergeht. Den vermeintlich triftigsten Grund bildet die vor allem seit den 1990er-Jahren massenmedial wirksam gewordene These, wonach die überwiegende Mehrheit der Wehrmachtsangehörigen – auch der österreichischen – an Kriegsverbrechen mitgewirkt oder doch von diesen gewusst und somit, wenn auch in unterschiedlichem Maß, Schuld auf sich geladen habe.

Mit dieser Geschichtsdeutung wurde einer bipolaren Sicht der Dinge im öffentlichen Bewusstsein der Weg bereitet: Auf der einen Seite die an der Front (und die an der „Heimatfront“) im Dienste Hitlerdeutschlands operierenden „Täter“, auf der anderen Seite die davon betroffenen „Opfer“.

Bizarre Verallgemeinerungen

Niemand wird behaupten können, dass die Wehrmacht in allen ihrer Einheiten „sauber“ war. Man sollte jedoch auch die offizielle Gedenkpolitik von gewissen mit ihr verbundenen bizarren Verallgemeinerungen lösen. Sonst könnte es sein, dass bei jenen, deren Trauer nicht der (Gedenk-)Rede wert zu sein scheint, die Haltung des Mitgefühls für das Leid der öffentlich Betrauerten Schaden nimmt.

Erhebliche Teile der Bevölkerung würden das offizielle Gedenkgeschehen nur als saisonal bedingtes Erinnerungsritual auffassen. Zudem sind unter jener ja häufig bestimmte von Generation zu Generation tradierte Wissensinhalte gegenwärtig: so etwa, dass es zu Kriegsende zahlreiche, in keiner Weise kriminell gewordene Opfer nicht nur unter den Soldaten und Kriegsgefangenen gab, sondern auch unter den millionenfach Vertriebenen sowie unter den vom „terror bombing“ Betroffenen.

In Wien registrierten, wie der britische Historiker Tony Judt in seiner „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ vermerkt, Kliniken und Ärzte 87.000 Vergewaltigungsopfer. Ob auch das aus heutiger Sicht Gründe zur Freude sind? Wohl kaum.

Angesichts der ungeheuren Zahl von ideologisch begründeten Liquidierungen von Rassen- und Klassenfeinden sowie von Racheakten an Unschuldigen, aber insbesondere in Erinnerung an die unbeschreiblichen Leiden dieser Opfer geht es nicht an, diese Opfer, wie es einmal der Philosoph Hermann Lübbe ausdrückte, „nach Graden der moralischen Verwerflichkeit ihrer Tötung gruppieren zu wollen“ – und, so muss man hinzufügen, einen sehr großen Teil von ihnen aus der aktuellen Gedenkkultur auszugliedern.

Anspruch auf Fairness

Nicht nur Fachhistoriker sollten sich zur Sicherung des Anspruchs auf Fairness gegenüber allen Angehörigen vergangener Zeiten herausgefordert fühlen.

Kaum jemals wurde einer solchen Intention auf schönere Weise Ausdruck verliehen als im Jahr 1831 durch Leopold von Ranke in seiner Abhandlung „Ueber die Verschwörung gegen Venedig, im Jahr 1618“: „Zur Vertheidigung derjenigen, die sich nicht mehr vertheidigen können, die Wahrheit an's Licht zu bringen, werde ich immer für eine der wichtigsten Pflichten der Historie halten.“

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Dr. Karl Acham
(* 1939 in Leoben) ist Soziologe und Wissenschaftshistoriker. Er war ordentlicher Professor für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität in Graz; seit 2008 emeritiert. Zahlreiche Gastprofessuren in Deutschland, der Schweiz, Kanada, China, Brasilien, Japan. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2016)

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