Das Virus der Angst hat Europa entzündet

Gegen drohenden Ausfall weiterer Zähne nach dem Brexit hilft der EU nur eine rasche und gründliche Wurzelbehandlung.

Wir wissen es jetzt. Unser europäisches Angesicht wird sich verändern. Statt noch einen Zahn zuzulegen in Richtung Integration und Zusammenarbeit, hat Europa einen Zahn verloren. Welch schöne Analogie: Europa, das sind 28 Zähne, ohne dass je Weisheitszähne gewachsen wären. Und jetzt, nach der Extraktion des immer schon leicht eitrigen Zahnes Großbritannien, sind es noch 27.

Dumm nur, dass dies zumindest einer war, dessen Abwesenheit man sehen wird, wenn man dem zukünftigen Europa ins Antlitz blickt. Und sich bis zu einem einigen Europa (von vereint will ich gar nicht reden) durchzubeißen wird immer unwahrscheinlicher – vor allem dann, wenn weitere Zähne vom Nationalismus eitrig entzündet sind.

„Wir haben Europa (gemeint waren Deutschland und Frankreich), ohne eine Kugel abzufeuern, besiegt.“ Diese Entgleisung von Nigel Farage oder die verbalen Wahnwitzigkeiten eines Boris Johnson drücken aus, worum es den Brexit-Befürwortern eigentlich gegangen ist: Nicht nur um eine Extraktion Großbritanniens, sondern um eine Demütigung des europäischen Gedankens, der nach wie vor über eine rein wirtschaftliche Zusammenarbeit von nunmehr 27 Staaten hinausreicht.

Angst ist der Schlüssel

Aber diese Ebene kommt immer weniger zum Vorschein – im Gegenteil: Europa verliert Kontur, Gewissheit, Bedeutung. Angst ist der Schlüssel. Genau jene Menschen, die sich fürchten, dass Flüchtlinge das Gesicht Europas ändern, verändern mit ihren Ängsten das Gesicht Europas.

Das massivste Argument für Farage und seine UK Independence Party (UKIP) waren ja „die Ausländer“. Vor dem Unbekannten und vorab nicht Einschätzbaren fürchten sich Menschen – die Älteren mehr, die Jungen weniger. Die Mehrheit der ängstlichen Bürger – das größte Wählerpotenzial in unsicheren Zeiten – erwartet sich von Parteien und Repräsentanten Maßnahmen, die die Ängste beschwichtigen.

Und so treibt dieses krisengebeutelte Europa derzeit den Kleinmut und die Zaghaftigkeit, ja sogar den Frust durch Unentschlossenheit und Zerrissenheit weiter an.

Man darf sich nicht wundern, wenn Wunderheiler ohne fachlichen Hintergrund sich aufschwingen und in einfachen Bildern und Worten eine neue, sichere – auf jeden Fall andere Zukunft anbieten. Und wo wäre es vermeintlich sicherer als hinter engen dicken Mauern, die man um sich herum aufbaut?

Im Niedergang Europas steigt Bangigkeit in breiten Bevölkerungsschichten auf. Die Politik reagiert entweder mit Lähmung oder gemäß Auftrag der Ängstlichen: Wir halten fest, was droht zu vergehen. Ja, noch mehr: Wir holen zurück, was dein verklärender Blick in die Vergangenheit verspricht. Macht. Größe. Nationalen Herzschlag.

Wenn sich die Welt um einen ändert und man alles daransetzt, dass sich die eigene kleine Welt nicht nur nicht mehr ändern möge, sondern glorreiche Vergangenheiten wieder auferstehen – wenn dies auch im Falle Britanniens („Groß“ war einmal) völlig abwegig ist, dann wird ein Außerkraftsetzen bisheriger Vereinbarungen wider aller Vernunft möglich.

Europa ist befallen vom Virus Angst. Die Widerstandskraft gegen linke und rechte Virenattacken sinkt kontinuierlich. Die eitrigen Entzündungen einiger Zähne schwächen das politische System Europas.

Eine Abheilung ist unter den derzeitigen Umständen und im derzeitigen Handlungsspektrum der europäischen Institutionen nicht in Sicht. Die Sicherheit, die sozialen Standards, der Frieden im Inneren, das nach wie vor vorhandene Gewicht in der Welt, das bei einem einigen Europa sogar noch größer sein könnte: All das wird nicht wirklich in die Öffentlichkeiten transportiert.

Östliche Eiterherde

Stattdessen hören wir vom Zahnweh der Slowaken, Ungarn und Polen, allesamt zunehmende Eiterherde für den europäischen Zusammenhalt. In diesen Ländern haben die Präventionsmaßnahmen gegen den autoritären Nachhall aus der kommunistischen Ära offensichtlich nicht gegriffen.

Wir Österreicher, die Franzosen und die Niederländer merken ebenfalls den Mangel an politischer Führungskultur Europas und beginnen als Reaktion und mithilfe vereinfachender Neinsager und Einsager uns in die eigenen vier Wände zurückzuziehen. Auch wir ahnen bereits so etwas wie den Schmerz des baldigen Verlusts.

Ohne rasche und gründliche Wurzelbehandlung wird Europa weitere Zähne verlieren und als zahnloser Organismus enden. Was aber beinhaltet eine Wurzelbehandlung? Natürlich intensive politische Therapien. Die können auch schmerzhaft sein. Denn für Wahrheiten ist der Mensch zu haben. Jede dieser Wahrheiten kann sich in hochverzinste Hoffnung verwandeln.

Klare und wahre Worte heilen

Jedes System hat eine enorme Selbstheilungskraft, vorausgesetzt, man motiviert und informiert die Mitglieder dieses Systems. Eine der wirksamsten Therapien wäre eine ganz einfache Kommunikationskampagne, die den europäischen Bürgern die Chancen und die Möglichkeiten der EU so verständlich wie möglich nahebringt. Man kann die Populisten mit deren eigenen Waffen schlagen! Die kommunikative Hygiene ist der wichtigste Teil der sozialen Gesundheit. Klare und wahre Worte reinigen die Systeme.

Die effektivste Wurzelbehandlung heißt daher: deutliche Kommunikationsmaßnahmen gegen rechte wie auch gegen linke Radikalismen. Wie das geht? Mit einer gesamteuropäischen Kommunikationsoffensive, die einfach, aber wirksam den europäischen Menschen Hoffnung gibt. Hoffnung auf den Erfolg des Gemeinsamen. Hoffnung auf persönliche Sicherheit und Freiheit. Hoffnung auf Selbstheilung durch die engagierten Bürger Europas.

Das würde Hoffnungen wecken, weil es Hoffnung gibt – also der Klassiker einer positiven selffulfilling prophecy. Wenn es kollektive Hoffnung gibt, gibt es wieder Wachstum, wenn es Wachstum gibt, gibt es Hoffnung – und alles zusammen erschlägt die Depression, den Rückzug ins Private, die Eifersüchteleien und den Kampf ums tägliche Leiberl.

Desaströses Markenbild

Eine professionelle europäischen Informations- und Werbekampagne pro Europa könnte die populistischen Phrasen unterlaufen und wäre eine wirksame Therapie gegen die Entzündungsherde. Das Killerargument der Gegner „die geben ja das Geld der Bürger dafür aus“ würde durch die Dankbarkeit der Europäer, denen endlich einmal gesagt wird, wofür Europa wirklich steht und was Europa tut, mehr als aufgewogen werden. Man nennt das in der Kommunikationsbranche Branding.

Das derzeitige Markenbild Europa jedenfalls ist desaströs. Nicht dagegen anzukämpfen, hieße dann wohl, sich einer Wurzelbehandlung endgültig zu entziehen – und Europa dem Zahnausfall zu überlassen.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com


Dr. Hans Bachmann
(*1948, Spittal/Drau) studierte Volkswirtschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien und in Sydney. Er arbeitete als Werbetexter, Coach, Berater und Lehrer. Unterrichtstätigkeit als Dozent an den Fachhochschulen Joanneum und Hagenberg. Themen: Kommunikation, Persönlichkeit, Kreativität. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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