Europas Barbarisierung und die ohnmächtige Linke

Die Annahme, die Briten hätten das unmenschliche Europa der Wirtschaftsinteressen abgelehnt, führt in die Irre.

Die Briten haben am 23. Juni nicht, wie linke Kommentatoren meinen, gegen eine neoliberale EU, sondern für einen neoliberalen Nationalismus gestimmt. Die Europäische Union selbst aber ist nicht schlechter als ihre Fliehkräfte.

Das einzige Gespenst, das derzeit leider nicht in Europa umgeht, ist der Kommunismus. Wer diesen von vornherein als utopisch von der Agenda streicht, wird nicht einmal eine Sozialdemokratie erleben.

Einer der Gründe, warum die EU ein ökonomisches und kein soziales Projekt ist, liegt in der Ohnmacht der Linken. Und diese Ohnmacht ist leider auch dem Umstand geschuldet, dass sie die wunderbarste Tradition, die marxistisch aus der Aufklärung vermittelt wurde, das dialektische Denken, verlernt haben.

An den Debatten zum Brexit lässt sich der Hang zu starren Polaritäten erkennen. Europäer mit linkem Selbstverständnis sind ebenso wie die britische Gesellschaft in Brexit-Gegner und Brexit-Befürworter gespalten. Oft liegen beide falsch. Das wiederum liegt daran, dass sich unter den linken Brexit-Gegnern viele Menschen befinden, die ich als Gefühls- und Kulturlinke bezeichnen möchte. Sie erkennen die Motive der Brexit-Befürworter zwar richtig als irrationale Verbohrtheit, zeigen sich aber nicht minder weltentrückt, wenn sie die EU mit der emanzipatorischen Wertegemeinschaft verwechseln, als die sie sich in Ansprachen gern darstellt.

Die neoliberalen Vollstrecker

Die rechte Gefahr lässt sie unter die Decke derer schlüpfen, die mit ihrem totalitären Kapitalismus jene erst heraufbeschworen haben. Misery makes strange bedfellows. Keine Schande ist das. Eine Schande für Denker ist es aber, sich die eigene misery sowie die strangeness der Bettgenossen schönzureden und sogar ein bisschen Lust dabei zu empfinden, wenn diese einem Floskeln wie Pluralität, Freizügigkeit, Regenbogenparade und europäische Werte ins Öhrchen flüstern.

Jene Linken, die sich darauf beschränken, was eine Linke eigentlich ausmachen sollte – auf Sozialpolitik und die Kritik der Ökonomie –, sehen die EU zumeist illusionslos als das, was sie ist. Der tote Winkel in ihrer Wahrnehmung aber besteht in der Verwechslung jeder noch so reaktionären EU-Kritik mit dem Unbehagen der Prekarisierten am Europa der Konzerne. Der traditionelle Wunsch, in den Unterdrückten die Subjekte der gesellschaftlichen Emanzipation zu sehen, mag diesen Irrtum steuern, ebenso wie die Angst davor, elitär zu wirken.

Für Sarah Wagenknecht etwa war das Votum der britischen Mehrheit die Absage der Opfer an die Austeritätspolitik der EU. Die englischen Hooligans, die in grölender Dissonanz Britannien wieder über die Meere herrschen lassen wollen, haben die Sache ihr zufolge instinktiv ganz richtig verstanden, sie müssten bloß – etwa durch einen Crashkurs aus YouTube-Videos von Wagenknecht-Reden im deutschen Bundestag – vom nationalistischen Irrpfad abgebracht werden.

Die Annahme, die Briten hätten am 23. Juni dem unmenschlichen Europa der Wirtschaftsinteressen eine Absage erteilt, ist ebenso irrig wie interessant. Denn sie sagt einiges über das Verhältnis der Nationalstaaten zu den Institutionen der EU aus. So diese nämlich ein Moloch des neoliberalen Totalitarismus ist, so war das Vereinigte Königreich in allen hier kritisierten Aspekten sein Vorreiter und grausamster Vollstrecker – ob durch Thatcher oder New Labour, ob durch Privatisierung von Staatsbetrieben, des Gesundheitssektors, des öffentlichen Verkehrs oder durch die Aushöhlung aller erdenklichen sozialen Errungenschaften.

Schotten ticken anders

Jeglicher Versuch, Großbritannien an die zivilisatorischen Mindeststandards einer EU-Sozialcharta zu binden – man denke nur an die 48-Stunden-Woche –, wurde von London blockiert, zumeist mit Erfolg. Das britische Prekariat kam gar nicht so weit, Opfer der EU-Austeritätspolitik zu werden, seine Home-Ruler hatten den Job bereits weitaus gründlicher erledigt.

Es gibt Tausende richtige Argumente gegen die EU, keines davon wurde von den Rattenfängern des Brexit-Referendums formuliert. Und das stärker links geprägte Schottland wünscht die engere Bindung an die EU bestimmt nicht, weil Durchschnittsschotten privilegierte, Whiskey Sour schlürfende St.-Andrews-Absolventen sind, die sich die polnischen Billigarbeiter für den Bau ihrer Highland-Villen nicht nehmen lassen.

Unerträglich und zynisch muss Linken die Einsicht sein, dass viele der ideellen Working Class Heroes bloß wie alle Nationalisten vom patriotischen Wunsch getrieben sind, lieber von den eigenen als von fremden Eliten gedemütigt zu werden, und die daraus entstehenden Frustrationen sich auf fremde Macht – die EU – sowie fremde Ohnmacht – die Migranten – entladen.

Gescheiterte Sozialreformen

Linke Kommentatoren, die den Bildungsunterschied zwischen Pro- und Anti-Brexit-Votern als den Gegensatz von Prekariat und nach Europa jettender Upper Middle Class darstellen wollten, verhöhnten damit die politisch Gebildeten der unteren Klassen, die auf die Rattenfänger nicht hereinfielen und die vielleicht wissen, dass die EU nur so schlecht ist wie die nationalen Egoismen, die deren Gepräge ausmachen.

Reflektierende englische Arbeiter wissen möglicherweise auch, dass alle zaghaften Versuche einer sozialen Reform der EU am nationalen Widerstand ihrer mächtigsten Mitgliedsländer scheiterten, dass das Kapital zwar global agiert, sich aber nationalstaatlich abschottet und die Europäische Kommission als Plattform einer zutiefst antieuropäischen Politik nützt, dass die notwendige Akkordierung der Steuersysteme, auch zu schaffender Vermögen- und Finanztransaktionssteuern, die Regulierung der Finanzmärkte und der Ausgleich des sozialen Gefälles innerhalb der EU immer am Widerstand einzelner Mitglieder scheitern würden, allen voran Großbritanniens und Deutschlands.

Vieles, was der EU angelastet wird, ist die Politik ihrer partikulären Regierungen, die sich deren Opfern dann als heimelige Alternative zum Moloch anbieten. Die Stammtischkritik am aufgeplusterten Beamtenapparat ist lächerlich, denn würde dieser dazu dienen, oben erwähnte Standards durchzusetzen, sei ihm doppelte, dreifache Aufplusterung gegönnt.

Reform oder Putsch?

Linke, ob radikal oder reformatorisch, müssten einsehen: Der Rekurs auf die kleinstaatlichen Idylle ist ohne Rückfall in die nationalistische Barbarei nicht zu haben und die Südeuropäische Sozialistische Föderation nicht in Aussicht.

So barbarisch sich die EU gebärden mag und so sehr sie Mitschuld trägt an der Barbarisierung Europas, es bleibt im Augenblick kein Ausweg als ihre institutionellen Kanäle – ob durch Reform oder Putsch. Und da das Gespenst des Kommunismus einstweilen – leider – exorziert scheint, gäbe eine sozialdemokratisch geprägte EU einen passableren Feind ab als H.-C. Strache und Le Pen samt Jean-Claude Juncker als tröstendem bedfellow.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Richard Schuberth
(*1968 in Ybbs) ist Schriftsteller, Gesellschaftskritiker und Satiriker. Er studierte Ethnologie, Philosophie, Psychologie und Geschichte in Wien. Jüngste Veröffentlichungen: der Roman „Chronik einer fröhlichen Verschwörung“ (Zsolnay), der Essayband „Karl Kraus – 30 und drei Anstiftungen“ (Klever). [ Mehmet Emir]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2016)

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