Wenn Dienst nach Vorschrift das System lähmt

Über die Interaktion des geschriebenen und praktizierten Regelsystems.

Die deutsche Sprache kennt den Ausdruck Dienst nach Vorschrift. Damit ist ein Verhalten von Angestellten gemeint, das als Obstruktion bezeichnet werden kann. Man richtet sich in der Verrichtung der alltäglichen Geschäfte nach den Buchstaben des Gesetzes und damit kommt in der Regel der Amtsverkehr zum Erliegen.

Die Tätigkeit der Mitarbeiter von Behörden, Unternehmen, Gerichten, Krankenhäusern, Gefängnissen basiert auf geschriebenen Regeln. Aber diese Regeln fungieren nicht als wörtliche Handlungsanweisungen. Jeder, der neu in einem Arbeitsfeld beginnt, lernt zuallererst, wie der Hausbrauch funktioniert, wie und ob die geschriebenen Regelungen anzuwenden und auszulegen sind.

Diesen Unterschied zwischen zwei Regelsystemen – dem geschriebenen und dem praktizierten – hat der kanadische Kriminologe McNaughton-Smith in einem kleinen Aufsatz 1969 als ersten und zweiten Code bezeichnet und gezeigt, wie man in Organisationen Kontrolle ausübt und Mitarbeiter sanktioniert. Will ich einen Mitarbeiter bestrafen, suche ich nach einem Verantwortlichen für ein Ergebnis, das mir nicht passt, dann beziehe ich mich auf den ersten Code und ziehe das geschriebene Regelwerk hervor.

Rigide Formvorschriften

Der Polier auf der Baustelle, der die Vorschriften des Arbeitsschutzes ernst nimmt; der Lkw-Fahrer, der sich an die gesetzlich vorgeschriebenen Pausenregelungen und Geschwindigkeitsbegrenzungen hält; der für Bewilligungsbescheide zuständige Beamte, der die Buchstaben des Gesetzes eins zu eins anwendet; Richter und Gutachter, die bei der Entscheidung über eine Sachwalterschaft sich an die rigiden Formvorschriften des Gesetzes halten – sie alle würden durch eine solche Art des Dienstes nach Vorschrift in ihren Bereichen den Betrieb zum Erliegen bringen. Das macht normalerweise niemand. Vor Ort wird verhandelt und interpretiert, nach Augenmaß, Vorlieben, gesundem Menschenverstand oder extern gesetzten Notwendigkeiten der effektiven Erledigung von gesetzten Aufgaben gehandelt.

Das Risiko des Absturzes

Das kompetente Bodenpersonal regelt für gewöhnlich die Angelegenheiten zur allgemeinen Zufriedenheit, auch wenn der eine oder andere mit der gefundenen Entscheidung hin und wieder unzufrieden sein mag. Das basiert auf dem zweiten Code. Wenn aber etwas schiefgeht, kann man dank der Differenz erster/zweiter Code die handelnden Personen zur Rechenschaft ziehen.

Dann wird auf den ersten Code rekurriert. Dann zieht man für gewöhnlich vor Gericht, ficht Bescheide an, lässt ärztliche Diagnosen oder die Einhaltung von Vorschriften überprüfen. Dann tut man so, als gäbe es keinen Unterschied zwischen einer formalen Regel und ihrer praktischen Anwendung, als gäbe es den Unterschied zwischen der Herstellung und der Darstellung eines Ergebnisses nicht.

Dergleichen geschieht für gewöhnlich mit gespielter Erregung und lautstarker Forderung nach buchstabentreuer Gesetzesanwendung. Nur erzeugt ein solch hoher moralischer Ton zugleich eine Fallhöhe, die auch das Risiko des Absturzes beinhaltet.

Denn schon morgen könnte es sein, dass man selbst darauf angewiesen ist, pragmatisches Augenmaß über förmliche Ordnung zu stellen, dass man wieder auf das gesunde Empfinden setzt, das bitte nicht durch den trockenen Formalismus der Juristen ersetzt werden möge oder dass man die Stimme des Volkes gern über das vom Volk verabschiedete Gesetz stellen möchte.

Reinhard Kreissl ist Soziologe, Leiter des Wiener Zentrums für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2016)

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