Lügen im Wahlkampf als übliche politische Routine?

Aus Anlass des heiß werdenden US-Wahlkampfs: über das Lügen, Unehrlichsein und machiavellistische Täuschen in der Politik.

Der bisherige US-Wahlkampf, der mit den Nominierungsparteitagen von Republikanern und Demokraten in eine neue heiße Phase tritt, ist durch häufige gegenseitige Anschuldigungen des Lügens und der Unehrlichkeit gekennzeichnet. Während der Brexit-Debatte in Großbritannien hat jede Seite die andere beschuldigt, die Wahrheit zu verbiegen. Das Tempo freilich, mit dem das „Leave“-Lager seine Versprechungen zurückgenommen hat und mit dem sich die Behauptungen des „Remain“-Lagers realisiert haben, legt nahe, welches von beiden Lagern tatsächlich die Wahrheit gesagt hat.

Im US-Präsidentschaftswahlkampf hat Donald Trump, der sich diese Woche in Cleveland zum Kandidaten der Republikaner für das Weiße Haus küren lassen will, seinen stärksten Konkurrenten bei den Vorwahlen kaum einmal erwähnt, ohne ihn sogleich als den Lügner Ted Cruz zu bezeichnen. In ähnlicher Weise lässt Trump kaum eine Gelegenheit aus, um bei Nennung von Hillary Clinton, der mutmaßlichen Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, das Wort „unehrlich“ voranzustellen. Als Clinton zuletzt eine vorsichtige Rede zur Außenpolitik hielt, reagierte Trump, indem er sie als Weltklasselügnerin bezeichnete.

Typisches Politikerverhalten?

Wie aber sieht die Realität aus? Die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Organisation PolitiFact, die den Wahrheitsgehalt politischer Äußerungen überprüft, hat 60 Prozent der Behauptungen Trumps seit Beginn seines Wahlkampfs als unzutreffend oder schlicht gelogen eingestuft – gegenüber zwölf Prozent der Aussagen Clintons.

Einige Zyniker tun diese Art des Schlagabtauschs zwischen Kandidaten als typisches Politikerverhalten ab. Aber da macht man es sich zu einfach. Denn so ignoriert man wichtige Fragen darüber, wie ehrlich wir uns unsere politischen Führer und unseren politischen Diskurs wünschen.

Vielleicht wollen wir tatsächlich nicht, dass unsere politischen Führer immer die volle Wahrheit sagen. In Kriegszeiten oder während einer Operation zur Terrorbekämpfung ist Täuschung möglicherweise eine unverzichtbare Voraussetzung für den Erfolg – der in unserem Interesse liegt.

Andere Fälle sind weniger dramatisch, aber nicht weniger bedeutsam. Manchmal haben politische Führer Ziele, die sich von denen eines Großteils ihrer Anhänger unterscheiden; statt diese Unterschiede aufzuzeigen, täuschen sie ihre Gefolgsleute. Wenn derartige Handlungen aus Eigennutz erfolgen, wie etwa in Fällen von Korruption oder der narzisstischen Befriedigung des eigenen Egos, ist eine moralische Verurteilung einfach und angemessen.

Im Gegensatz dazu investieren andere Politiker, deren Ziele sich von denen ihrer Anhänger unterscheiden, eine Menge Arbeit und politisches Kapital, um sie von einem anderen Gesichtspunkt zu überzeugen. Manchmal ist es für politische Führer unmöglich, ihre Anhänger rechtzeitig angemessen zu schulen, oder diese sind zu zerstritten, um einen Konsens herbeizuführen, der ein nachhaltiges kollektives Handeln ermöglicht.

Unter diesen Umständen nehmen manche Politiker eine paternalistische Sicht ein und entscheiden sich, ihre Anhänger zu täuschen – zugunsten eines späteren Nutzens für diese Anhänger. So täuschte etwa der Mehrheitsführer im US-Senat, Lyndon B. Johnson, seine Anhänger in den Südstaaten, um das Bürgerrechtsgesetz von 1957 durchzubringen.

Charles de Gaulle verheimlichte, als er 1958 an die Macht kam, seine Strategie für die Unabhängigkeit Algeriens; denn er wusste, dass sie sonst zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. John F. Kennedy täuschte die Öffentlichkeit über den im Rahmen jener Vereinbarung, die die Kuba-Krise von 1962 friedlich beendete, vorgenommenen Abzug von Atomsprengköpfen aus der Türkei.

Lügen als Leibwache

Franklin D. Roosevelt belog die Öffentlichkeit über einen deutschen Angriff auf einen US-Zerstörer, um deren Widerstand gegen einen Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zu überwinden. Und Winston Churchill äußerste einst, dass die Wahrheit so kostbar sei, „dass sie immer von einer Leibwache von Lügen begleitet sein sollte“.

Dass die Ziele eines politischen Führers manchmal einen Verstoß gegen die Normen der Ehrlichkeit rechtfertigen mögen, bedeutet nicht, dass alle Lügen den gleichen Stellenwert haben. Eine machiavellistische Täuschung ist häufig Teil einer Strategie, etwa bei Verhandlungen oder wenn es darum geht, eine Gruppe dazu zu bewegen, neue Ziele zu akzeptieren. Eine allein dem eigenen Nutzen dienende Täuschung wandelt sich von einer Strategie, von der andere profitieren können, zur selbstsüchtigen Manipulation.

Die seltene Ausnahme

Selbst wenn man zugibt, dass Täuschung manchmal notwendig ist, kann man trotzdem nach der Wichtigkeit des Ziels fragen und nach der Verfügbarkeit alternativer Mittel, um es zu erreichen. Man kann außerdem fragen, ob die Täuschung als Präzedenzfall oder Beispiel wirken wird, welchen Schaden die verschiedenen Opfer erleiden und inwieweit die Täuschenden rechenschaftspflichtig sind (ob ihr Verhalten im Nachhinein aufgedeckt und erklärt werden kann).

Der Historiker Eric Alterman kommt in seinem Buch „When Presidents Lie“ zu dem Schluss, dass sich die Lügen von Präsidenten „unweigerlich in Monster verwandeln, die ihre Schöpfer ersticken“. Es ist für Politiker allzu einfach, sich selbst zu überzeugen, dass sie eine edle Lüge erzählen, die sich zugunsten ihrer Anhänger auswirken wird, während sie in Wirklichkeit nur deshalb lügen, weil es ihnen aus politischen oder persönlichen Gründen zupass kommt. Dies macht es in einer Demokratie umso wichtiger, dass wir die Kompromisse zwischen Zielen und Mitteln, die Politiker treffen, sorgfältig prüfen.

Es mag tatsächlich Situationen geben, in denen wir einverstanden wären, wenn uns ein Politiker eine Lüge auftischt. Doch sollten solche Fälle die seltene Ausnahme bleiben und einer sorgsamen Überprüfung unterliegen. Andernfalls entwerten wir die Währung unserer Demokratie und senken die Qualität unseres politischen Diskurses.

Unverzichtbares Überprüfen

Aus diesem Grund ist es ein Fehler, wenn Zyniker Trumps Rhetorik lediglich als eines der Dinge abtun, die Politiker eben machen. Wenn PolitiFact und andere Organisationen recht haben, lügen nicht alle Politiker in gleicher Weise. Trump hat viel mehr falsche Aussagen getätigt als jeder seiner Gegner – und nur wenige davon würden bei näherer Betrachtung als uneigennützig durchgehen.

Eine unabhängige, tatkräftige Presse, die die Dinge auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, ist unverzichtbar, um die Integrität der Demokratie zu wahren. Dasselbe jedoch gilt für eine Wählerschaft, die dem Zynismus und der Entwertung des politischen Diskurses Widerstand leistet.

Aus dem Englischen von Jan Doolan
Copyright: Project Syndicate, 2016.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Joseph S. Nye (geboren 1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993–94) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994–95).Sein jüngstes Buch: „Is the American Century Over?“ Zuletzt war er Ko-Vorsitzender einer Diskussionsrunde
der Aspen Strategy Group zum Thema „Islamischer Staat“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2016)

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