Gespaltene Nationen – zerbrochene Welt

Solange die gesellschaftlichen Missverhältnisse fortbestehen und sich verschärfen, ist die europäische Identitätsfindung gefährdet. Auf globaler Ebene rückt die Herausbildung einer zivilisierten Weltgesellschaft in weite Ferne.

Die Fußballeuropameisterschaft ist vorbei und damit auch die Orgie des europäischen Nationalismus. Zurück bleiben die gespaltenen Nationen Europas, uneins in der Entscheidung zwischen der Forderung nach einer scheinbar möglichen Renationalisierung, der unleugbaren Herausforderung der Globalisierung und einer immer zwingender werdenden Logik der Europäisierung.

Traditionelle Arbeiter- und klassische Volksparteien sind in sich uneinig, stark in der Defensive oder gar im Sinkflug begriffen. Dagegen sind Ein-Mann-, Mobilisierungs- und Protestbewegungsparteien im Anwachsen, die vor allem im Bereich der Nichtwähler zu punkten verstehen. Klare absolute Mehrheiten sind rar geworden und ein polarisiertes Elektorat mehr und mehr ein politischer Trend.

Von Italien bis Österreich

In Europa gibt es alte und neue Problemfälle von Nationalstaaten, die inzwischen gewahr wurden, nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein: Italien ist traditionell ökonomisch in den reichen Norden und den längst abgehängten armen Süden geteilt. Es ist bereits drastisch vom „italienischen Desaster“ (Perry Anderson) die Rede. Spanien ist traditionell gespalten, und zwar ethnisch und sprachlich mit Basken und Katalanen an den Rändern seines Territoriums, Belgien zwischen Flamen und Wallonen. Dort behauptete man früher, es gebe drei Dinge, die den Staat zusammenhielten: das Königshaus, das Pensionssystem und Europas Hauptstadt Brüssel.

Gebeutelt von einer Politik der „Rettungspakete“ ist die griechische Öffentlichkeit, seit 2010 zerrissen zwischen Reformnotwendigkeit, Sparmaßnahmen und dem sozialen Absturz weiter Teile der Bevölkerung in die Bodenlosigkeit.

Wie zerrissen die Türkei ist, zeigen Hintergründe und Folgen eines Militärputschs, der in einen kalten Staatsstreich gemündet ist.

Auch Referenden helfen nicht weiter. Sie schienen dem britischen Premier David Cameron als Königsweg, entpuppten sich aber als Fehlkalkulation, weil damit keine Probleme gelöst werden: Das Vereinige Königreich ist zwischen Engländern und Schotten in der Brexit-Frage mehr gespalten als zuvor.

Frankreichs Politik ist durch Reformstau und Streiks gelähmt, ohnmächtig im ineffizienten Ausnahmezustand im Zeichen terroristischer Bedrohung. Deutschland steht vor dem Ende der „Willkommenskultur“. Angela Merkel hat für die Große Koalition keine klare Mehrheit. CDU und CSU sind uneins in der Flüchtlingsfrage.

Österreich steht vor einer neuerlichen Zerreißprobe. Vordergründig geht es um Heimatverbundenheit versus Weltoffenheit. Tatsächlich aber geht es mehr um Aufbruch oder Erhalt eines bereits erodierenden Parteiensystems mit einer erstarrten und korrupten Proporzkultur von „Reichshälften“.

Schießwütiges Amerika

Nicht nur Europa, auch die USA sind gespalten – und dies spätestens seit der zweiten Wahl von George W. Bush. Sein Nachfolger, Barack Obama, hätte einen innenpolitischen Scherbenhaufen aufräumen sollen: Das seit Gründung des angeblich großartigsten Landes der Welt existierende Problem – der Rassismus mit Übergriffen gegen Schwarze – ist weiter ungelöst und dies alles inmitten einer schießwütigen Nation mit 300 Millionen Schusswaffen im Privatbesitz. Die Parteien sind uneins und verfeindet.

Dabei ist der Kampfbegriff des Populismus politisch kontraproduktiv. Längst ist die Politik generell populistisch geworden. Autokratismus, Bonapartismus und Cäsarenwahn treffen es mehr. Der Ruf nach dem starken Mann wird lauter: Dafür ist Berlusconi als Vorbote aus Italien gestanden wie Mussolini als „erster Faschist“ (Hans Woller) in den 1920er-Jahren. Heute sind Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin und Viktor Orbán seine Protagonisten.

In Großbritannien ist ein Rüpel Außenminister geworden, in den USA ist ein politisches Trampeltier im Anmarsch. Mit Internationalismus, Liberalismus und Multilateralismus in ihrer Außenpolitik ist nicht zu rechnen, eher mit Konservatismus, Nationalismus und Unilateralismus.

Falsche Prioritätensetzung

Vermeintlich starke „Volksführer“ werden noch lang alle Hände voll zu tun haben, aufgerissene innenpolitische Gräben zuzuschütten statt erfolgreich Träger internationaler Organisationen und Förderer supranationaler Institutionen zu sein. Darunter leiden die EU, die OSZE und nicht zuletzt die UNO. Die gespaltenen Nationen sind tatsächlich Ausdruck desintegrierter Gesellschaften mit sozialen Verwerfungen. Seit geraumer Zeit steigern sich schon Einkommen aus Besitz, Kapital und Vermögen weit mehr als solche aus Arbeit, Eigenleistung und realer Wertschöpfung.

Immer weniger Menschen sind vom Wirtschaftswachstum begünstigt, wie Daten der OECD deutlich machen. Die in Paris angesiedelte Organisation hat die weltweit bestehende Kluft zwischen Arm und Reich zuletzt wieder ermittelt: Die Relation zwischen Einkommen des reichsten und des ärmsten Zehntels der Bevölkerungen beträgt jeweils in Deutschland 7:1, Italien 11:1, Spanien 12:1, in Israel und der Türkei 15:1, in den USA 19:1, in Chile 27:1 und Mexiko gar 31:1.

Die „zersplitterte Welt“ (Karin Kneissl) spiegelt sich in den gespaltenen Nationen wider. Kaum ist der Zusammenhang zwischen fehlgeleiteter innerer Verteilungspolitik und dem Versagen einer gemeinsamen Außenpolitik deutlicher erkennbar, die mit anmaßender äußerer statt mit vernunftgeleiteter innerer Sicherheitspolitik falsche Prioritäten gesetzt hat.

Soziale Ungleichheit abbauen

Es fehlt eine jenseits staatlicher Sonderinteressen agierende transnationale Führungsschicht im Sinn glaubwürdiger Kooperationsbereitschaft und globaler Regierungsfähigkeit. Das ist sicher nicht leicht: Klimaschutz und Terrorismusbekämpfung sind keine dauerhaft koalitionstauglichen Themen. Die Frage der Energieversorgung und Ressourcensicherung spaltet mehr, als sie eint – auf europäischer wie globaler Ebene. Eher wird daraus ein entscheidendes Motiv für weitere Konflikte und künftige Kriege.

Das Unheil der Religionen hält den Zündstoff schon bereit. Der tiefere Grund ist jedoch ein anderer: Der Hebel ist beim Abbau der zu Recht kritisierten sozialen Ungleichheit in Europa und der Welt anzusetzen. Diese Ungleichheit – und nicht Religion – ist eine der wesentlichen Ursachen des Terrorismus; wie auch der sogenannte Islamische Staat eine Spätfolge anglo-französischer Kolonialpolitik im Nahen Osten und eine Direktfolge anglo-amerikanischer Interventionspolitik in der Golfregion ist.

Solange die gesellschaftlichen Missverhältnisse fortbestehen und sich weiter verschärfen, ist die europäische Identitätsfindung in Gefahr und auf globaler Ebene die Herausbildung einer zivilisierten Weltgesellschaft mehr denn je in weiter Ferne. Denn der Nord-Süd-Konflikt hat sich nach Ende des Kalten Kriegs noch erheblich verschärft. Und der Ost-West-Konflikt lebt erneut wieder auf.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Michael Gehler
(*1962 in Innsbruck) studierte Geschichte und Germanistik an der Uni Innsbruck, habilitierte sich 1999 und war dort a.o. Professor am Institut für Zeitgeschichte. Seit 2006 Professor und Leiter des Instituts für Geschichte an der Uni Hildesheim. Seit 2011 Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2016)

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