Die rätselhafte Kehrtwende des Professor Mayer

Das Urteil des VfGH vom 1. Juli mag unerfreulich sein, es war aber unausweichlich.

Man kann natürlich immer seine Meinung ändern. Während Professor Heinz Mayer nach Bekanntgabe der Aufhebung noch sehr einverstanden mit der Entscheidung des Verfassungsgerichthofes war („nichts zu meckern“), ist er nun genau gegenteiliger Meinung. In seinem Gastkommentar („Presse“ vom 6. 10.) schreibt er, dass es sich nicht nur um eine Fehlentscheidung, sondern sogar um eine „klare Fehlentscheidung“ handle. Gut, man kann seine Meinung ändern. Man sollte das aber aus guten Gründen tun.

Diese guten Gründe sprechen aber jedenfalls für Mayers ursprüngliche Einschätzung: Das Urteil des VfGH vom 1. Juli ist im Ergebnis unerfreulich, der Sache nach aber unausweichlich. Denn den Kritikern des Urteiles ist folgende einfache Frage zu stellen: Wie hätte der VfGH denn mit Stimmen umgehen sollen, die von der Zählung auszuscheiden sind?

Daran, dass bestimmte Stimmen von der Zählung auszuscheiden waren, besteht kein Zweifel. Was bedeutet aber dieses Ausscheiden? Es kann nur bedeuten, dass diese Stimmen nicht gezählt werden dürfen und dass daher der Verfassungsgerichtshof in seiner rechtlichen Beurteilung nicht weiß, nicht wissen kann, nicht wissen darf, wie diese Wähler gestimmt haben.

Nicht verwendbares Wissen

Das klingt natürlich absurd. Denn tatsächlich wissen wir ja alle recht genau, wie die Wähler gestimmt haben. Dazu brauchen wir auch keine Mathematiker oder Statistiker. Die Krux ist, dass der VfGH dieses Wissen in seiner Argumentation nicht verwenden darf, weil die Stimmen eben nicht gezählt werden dürfen. Der Grad der Sicherheit des Wissens spielt hier also gar keine Rolle.

Auch wenn der VfGH mit Sicherheit wüsste, was der wahre Inhalt der ausgeschiedenen Stimmen war, auch wenn sich neben gewöhnlichen Mathematikern, Statistikern auch Nobelpreisträger, Nathan der Weise, der Papst oder Gott selbst in der Sache zu Wort melden würde, darf der VfGH dieses sichere Wissen in seiner Entscheidung nicht verwenden. Das ist leider zwingend so. Die einzige Möglichkeit, das zu vermeiden, wäre, die Stimmen irgendwie doch nicht aus der Zählung auszuscheiden. Das wiederum fordert niemand.

„Voller Beweis“ verbietet sich

Die grundsätzlichere Frage ist letztlich, welches Bild des Wählers hinter der Wahlaufhebung steht. Denn in seiner Grundorientierung leistet sich der VfGH tatsächlich eine Fiktion: die des autonomen, selbstbestimmten Wählers, dessen Abstimmungsverhalten durch nichts ersetzbar ist. Der Kritiker und Mathematiker hat demgegenüber etwas ganz anderes vor Augen: den von statistischen Gesetzen bestimmten Datenpunkt. Umgangssprachlich auch Stimmvieh genannt. Es sollte niemandem schwerfallen, sich hier auf die Seite des VfGH zu stellen.

Es ist daher für den VfGH aus logischen und weltanschaulichen Gründen unmöglich, irgendwelche anderen entscheidungsrelevanten Tatsachen als die Anzahl der auszuscheidenden Stimmen zu untersuchen. Der von Mayer geforderte „volle Beweis“ verbietet sich von Anfang an. Was für den VfGH übrig bleibt, ist das Wissen, dass sein rechtlich stipuliertes Unwissen mehr Stimmen betrifft als der Stimmenvorsprung des vermeintlich siegreichen Kandidaten.

Des Pudels Kern liegt damit keineswegs in statistischen, sondern in einer Mischung aus rechtlichen, logischen, erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Fragen. Es schien so, als wäre Mayer der Erste, der diese Gemengelage durchschaut hatte. Warum ihm diese Einsicht jetzt abhandengekommen ist, bleibt rätselhaft.

Dr. Christoph Kletzer lehrt Rechtswissenschaften und Philosophie am Londoner King's College.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2016)

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