Zynisch, aber konsequent: Letzte-Wille-Pille auf Rezept

Gastkommentar. Niederlande will Sterbehilfe auch für Gesunde, die vom Leben genug haben.

Tötung auf Verlangen ist in Österreich strafbar, auch die Beihilfe zum Suizid ist verboten. Nicht so in den Niederlanden. Dort sorgt der jüngste Vorstoß von Gesundheitsministerin Edith Schippers für heftige Debatten: In Zukunft sollen auch über 75-Jährige, die gesund und rüstig sind, aber irgendwie vom Leben genug haben, Unterstützung bei Selbstmord erhalten dürfen.

Das Gefühl einer gewissen Lebenssattheit ist für die Ministerin ausreichendes Motiv, um Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können. Dann soll der Staat „Barmherzigkeit“ zeigen. Einzig nötig ist, dass die Entscheidung autonom gefällt werden muss, ohne Druck von außen, also freiwillig. Weder muss eine schwere Erkrankung noch unerträgliches Leiden vorliegen. Derzeit wird dazu ein neuer Gesetzesvorschlag erarbeitet.

Seit knapp 15 Jahren sind Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung in den Niederlanden als erstem Land weltweit gesetzlich erlaubt. Im Jahr 2015 starben laut offiziellen Zahlen 5516 Menschen durch Euthanasie, das sind 15 pro Tag! 90 Prozent der Tötungen auf Verlangen wurden bislang vom Hausarzt durchgeführt.

Nun sollen zertifizierte Selbsttötungsbegleiter älteren, gesunden Menschen auf ihrem letzten Lebensweg zur Seite stehen. Die Letzte-Wille-Pille könnten sie auf Rezept in Hinkunft selbst in der Apotheke abholen.

Brutaler Pragmatismus

Ein Fortschritt in Sachen Autonomie? Was schauerlich klingt, ist – zynisch betrachtet – in Wahrheit einfach nur konsequent: Denn warum, so könnte man zu Recht fragen, soll die Erfüllung von Todeswünschen nur auf Schwerkranke beschränkt bleiben? Sind Gesunde nicht genauso selbstbestimmt? Oder Pensionisten, Menschen mit Liebeskummer oder Häftlinge, die meinen, das Leben habe nichts Gutes mehr mit ihnen vor? Wer sagt eigentlich, dass die Autonomie des Kranken zum Töten legitimiert, nicht aber die Autonomie des Gesunden? Die Niederlande beantworten diese Frage mit einem brutal konsequenten Pragmatismus: der tödliche Medikamentencocktail – als Angebot für alle.

Keiner stirbt für sich allein

Damit sind sie ein Warnbeispiel, ebenso wie die Schweiz, wo der Sterbehilfeverein Exit mit dem Angebot des „Altersfreitods“ für Senioren seinen Markt erweitern will.

Wer die Entscheidung zum Suizid als geglückten Testfall von Autonomie betrachtet, hängt einem wirklichkeitsfremden Autonomiebegriff an. Die Selbstbestimmung des Subjekts löscht sich ja eben aus, wenn sie Selbstzerstörung zum Ziel hat. Zudem werden die fundamentale Angewiesenheit des Menschen und sein Eingebundensein in Gemeinschaft ausgeblendet. Kein Mensch lebt für sich allein, kein Mensch stirbt für sich allein.

Ist das Tabu der Beihilfe zur Selbsttötung einmal gebrochen, ist der Schritt zur akzeptierten Normalität, die schließlich zur sozialen Pflicht wird, nicht weit. Ältere, kranke und vulnerable Menschen fühlen sich in unserer Leistungsgesellschaft ohnehin schon häufig als „Last“. Der Gedanke, dass sie das alles ihren Mitmenschen ersparen könnten, auch finanziell, schwingt stillschweigend mit. Die Botschaft zum „sozial verträglichen Frühableben“ lautet: „Du bist über 70. Ist es für dich nicht Zeit abzutreten? Lehn dich zurück, wir helfen dir!“

Subtiler kann Druck kaum ausgeübt werden, die sogenannte Selbstbestimmung kippt in Fremdbestimmung. Wenn wir als Gesellschaft menschenwürdig und in Solidarität mit den Schwächsten leben wollen, dann muss der Schutz vor Tötung oder Beihilfe zur Selbsttötung ein Fundament der Rechtsordnung bleiben.

Mag. Susanne Kummer ist Ethikerin und Geschäftsführerin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (Imabe) in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2016)

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