Gefälschte Pässe unter dem Korsett

Erinnerungen an Joseph Buttinger und Muriel Gardiner, die vielen verfolgten Österreichern zur Flucht verhalfen.

Angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingskrise sollte man nicht vergessen, dass es auch Zeiten gab, als viele Österreicher auf der Flucht waren.

Nach den bürgerkriegsähnlichen Unruhen im Februar 1934 trieb das Dollfuss-Regime Tausende Sozialdemokraten in die Flucht oder in den Untergrund. Der junge Aktivist Joseph Buttinger war einst bei der Gründung der Revolutionären Sozialisten (RS) in Wien mitbeteiligt. Von der Dollfuß-Polizei verfolgt, tauchte er unter und lernte die junge amerikanische Medizinstudentin Muriel Gardiner kennen. Gardiner stammte aus einer wohlhabenden Familie in Chicago; sie hatte die Mittel, um Buttinger und andere untergetauchte RS-Leute in ihrer Wiener Wohnung Unterschlupf zu bieten.

Nach dem Anschluss im März 1938 flüchtete Buttinger nach Paris, wo er zum Chef der Sozialisten im französischen Exil („Auslandsvertretung der Österreichischen Sozialisten“) aufstieg. Gardiner blieb in Wien und schloss ihr Medizinstudium ab. Gleichzeitig wurde sie in der Flüchtlingshilfe aktiv. Sie beschaffte zahlreichen Österreichern (Sozialisten und Juden) die notwendigen Papiere und verhalf ihnen damit zur Flucht ins Ausland.

Unter ihrem Korsett schmuggelte sie gefälschte Reisepässe von Brünn nach Wien. Sie bettelte bei amerikanischen Freunden und Familienmitgliedern für „Affidavits“: Bestätigungen von US-Staatsbürgern, dass sie Einwanderer in die USA unterstützen würden. Ohne solche Bestätigungen gab es vom amerikanischen Konsulat in Wien kein US-Visum.

Von Paris nach New York

Gardiner unterstützte auch zahlreiche Flüchtlinge finanziell, um ihnen die Reise und den Aufenthalt im Ausland zu ermöglichen. Im Sommer 1938 zog sie selbst nach Paris. Dort setzte sie ihre Arbeit für Flüchtlinge aus Wien fort. Nach dem Kriegseintritt Frankreichs wurden Flüchtlinge (auch Buttinger) interniert. Seine Frau, Muriel – die beiden hatten inzwischen geheiratet –, holte ihn aus dem Lager heraus. Im November 1939 zog das Paar nach New York.

Kreisky blieb in Schweden

Dort setzten die Buttingers ihre Tätigkeit in der Flüchtlingshilfe fort. Sie veranlassten die Roosevelt-Regierung, Druck auf Frankreich auszuüben, die Internierungslager zu schließen. Sie besorgten weiter Affidavits und Visa für Flüchtlinge aus Europa. Und sie unterstützten in New York angekommene Flüchtlinge finanziell, besorgten Unterkünfte, boten Vertriebenen in ihrer eigenen Wohnung Unterschlupf an.

Sie hätten auch ein Visum, Reisespesen und 600Dollar Lebenshaltungskosten für ein Jahr für Bruno Kreisky besorgt, der es aber vorzog, in seinem schwedischen Exil zu bleiben.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen die Buttingers nach Europa zurück, um Flüchtlingen und Vertriebenen (Displaced Persons) zu helfen. Sie besorgten Tausenden von ihnen Papiere, um aus Europa herauszukommen. Von 1945 bis 1948 schickten sie jeden Monat 100 verschiedenen Familien in Österreich und Deutschland Care-Pakete. Es waren persönliche „Liebesgaben“, die notwendigsten Lebensmittlel, um das Überleben in ärgster Not zu ermöglichen. Zahlreiche Briefe im Buttinger-Nachlass des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes in Wien legen Zeugnis von der großen Dankbarkeit der so Unterstützten ab.

Joe Buttinger machte diese in der Flüchtlingshilfe zu seinem Brotberuf. 1954 flog er für das International Rescue Committee nach Saigon, um vietnamesische Flüchtlinge zu unterstützen. 1956 kam er nach Wien zurück, um ungarischen Flüchtlingen zu helfen, von denen 30.000 in den USA Zuflucht fanden.

Günter Bischof (*1953 in Mellau/Vorarlberg) unterrichtet amerikanische Geschichte an der Universität von New Orleans, wo er auch ein Österreich-Zentrum leitet.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2016)

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