Nicht Globalisierung versagt, sondern der Staat

Europa muss selbstbewusst ein Modell der Globalisierung propagieren, das für andere Länder attraktiver ist als der Isolationskurs der USA, der chinesische Staatsinterventionismus und das russische Expansionsstreben.

Wenn heute etwas schiefläuft, braucht man nur behaupten, dies sei Folge der Globalisierung. Arbeitslosigkeit, stagnierende Löhne und Fremdbestimmung werden als Konsequenz offener Märkte dargestellt. Das sieht auch Donald Trump so und hat damit die US-Wahl gewonnen. Er lehnt auch Handelsverträge mit asiatischen Ländern ab, mit denen die USA den Vormarsch Chinas bremsen wollten.

Von 1980 bis zur Finanzkrise erlebten wir eine neue Welle der Globalisierung. Die Weltwirtschaft wuchs in dieser Phase um drei Prozent pro Jahr, was eine Verdoppelung in 25 Jahren bedeutet. Die Schwellenländer holen auf, Armut und Säuglingssterblichkeit sind dramatisch gesunken, stärker, als es die UNO in ihren Millenniumszielen zu wagen hoffte.

Steigende Ungleichheit

Die Produktvielfalt ist gestiegen und die Inflation wurde stark reduziert – besonders jener Güter, die von niedrigen Einkommensbeziehern nachgefragt werden. Das Wachstum in den Industrieländern liegt jedoch nur bei ein bis zwei Prozent, nicht zuletzt durch die Spätfolgen der Finanzkrise. Die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ist gestiegen, mit gewissen Unterschieden in den USA und in Europa.

In den USA stagnieren die Medianeinkommen seit Jahrzehnten. Die Löhne in der Industrie sinken, Beschäftige ziehen sich aus dem Arbeitsprozess zurück, weil sie zu wenig verdienen. Schuld sind Chinesen und Mexikaner. Die Leistungsbilanz ist stark defizitär, die Infrastruktur leidet, der Staat ist hoch verschuldet. Die Einkommen im Topsegment aber explodieren.

Auch Europa sieht sich oft als Globalisierungsverlierer – trotz aktiver Außenhandelsbilanz. Im Vergleich zu den USA ist in Europa weder die Armut gestiegen noch sind die Löhne der Industriearbeiter absolut zurückgegangen. Die Lebenserwartung ist höher und steigend. Der Aufholprozess Osteuropas verlief schneller als erwartet. Europa wurde deshalb von der Weltbank als Integrationsmaschine bezeichnet. Und in den Umfragen im Eurobarometer bewerten Europäer die Globalisierung eher als Vorteil (wenn sie auch dieses Wissen nicht immer bei Wahlen nutzen).

Allerdings steigt die Ungleichheit auch in Europa. Es steigt die Arbeitslosigkeit besonders bei der Jugend und bei gering Qualifizierten. Dies, weil einfache Produkte nun billiger in Schwellenländern produziert werden. Aufgabe der Politik wäre es daher, die Qualifikationen so zu heben, dass potenzielle Verlierer schneller umgeschult werden, als es die Verschiebung in der Arbeitsteilung erfordert. Das ist nicht geschehen.

Vier Unsicherheitsfaktoren

Der Staat verschärft die Probleme: Er beansprucht in den meisten europäischen Ländern 50 Prozent der Wirtschaftsleistung. Der Faktor Arbeit ist hoch besteuert, obwohl die Beschäftigung steigen sollte. Emissionen, Flugbenzin, Spekulationen, Erbschaften bleiben frei.

Mit den Steuermitteln werden fossile Energien gefördert, Großflächen in der Landwirtschaft sowie ein Militär, das nicht Außengrenzen schützt, sondern Kasernen und Privilegien. Für Kinderbetreuung, Qualifikation und Innovationen hat Europa kein Geld.

Vier Kräfte sind gemeinsam verantwortlich für Arbeitslosigkeit und stagnierende Einkommen gering Qualifizierter:
(1) Neue Technologien verlangen hoch qualifizierte Arbeitskräfte.
(2) Importe verdrängen die Beschäftigung in einfachen Tätigkeiten.
(3) Das Niveau der Arbeitslosigkeit ist aufgrund der geringeren Dynamik der europäischen Nachfrage seit der Finanzkrise höher.
(4) Durch Probleme in Herkunftsländern veranlasste Migration verstärkt das Angebot an schwer integrierbaren Arbeitskräften.

Diese vier Faktoren verstärken sich gegenseitig, sie erzeugen Unsicherheit und verleiten zur Suche nach Schuldigen. Die Antwort auf die vier Ursachen steigender Arbeitslosigkeit und Ungleichheit muss eine ebenso integrierte Politik sein. Europa braucht eine wirtschaftliche Strategie für 2050, die auf Innovationen, Ausbildung und neuen Technologien beruht. Und Europa braucht eine koordinierte Steuer-, Arbeitsmarkt-, Umwelt- und Sozialpolitik, keinen Siloansatz mit Einzellösungen, die sich gegenseitig hemmen. Nicht die Globalisierung ist das Problem, sondern ihre fehlende Begleitung durch die Wirtschaftspolitik.

Falsch wäre es daher, den Rezepten zu folgen, die Donald Trump versprochen hat. Globalisierung zum Feindbild zu machen; Zölle und Mauern zu bauen; den Klimawandel als Erfindung zu deklarieren; Wohlhabende steuerlich zu entlasten und ein Fünftel der Bevölkerung wieder aus der Gesundheitsversicherung auszuschließen.

Die bessere Antwort auf Ungleichheit und Arbeitslosigkeit ist eine verantwortungsvolle Globalisierung, begleitet von einer Wirtschaftspolitik, die sich an gesellschaftlichen Zielen orientiert. Sie soll Verlierer befähigen, an den Erfolgen der Globalisierung teilzuhaben und Anreize schaffen, um emissionsarme Technologien zu entwickeln und nutzen.

Drei Säulen einer neuen Politik

Eine neue Wirtschaftspolitik könnte auf drei Säulen aufbauen:
? Neuorientierung des Staates: Er soll seine Ressourcen effizienter nutzen; die Besteuerung des Faktors Arbeit und besonders niedrige Löhne sollen entlastet werden, soziale und ökologische Innovationen forciert werden. Damit steigt die Dynamik von Konsum und Investitionen in Europa.
?Systemänderungen: Technischer Fortschritt soll energie- und rohstoffsparender sein. Das Wohlfahrtsmaß des BIPs wird durch breitere Wohlfahrtsindikatoren (inkl. Gesundheit, Mobilität) ersetzt.
? Kooperation mit Nachbarländern: Investitionen, Kommunikation, Schüleraustausch und Stipendien stabilisieren das Umfeld, schaffen für Europa einen Wachstumsmarkt und reduzieren Migration.

Europa darf nicht die Globalisierung verteufeln. Es muss selbstbewusst ein Modell anbieten, das auch für andere Länder attraktiver ist als der Isolationskurs der USA, der chinesische Staatsinterventionismus und das russische Expansionsstreben: eine verantwortungsvolle Globalisierung mit sozialer Balance und ökologischer Exzellenz. Protektionismus und neue Mauern erhöhen die Arbeitslosigkeit und senken die Kaufkraft gerade der niedrigsten Einkommen.

Vielleicht hat das US-Wahlergebnis ja Europa aufgeweckt. Und Europa geht seinen eigenen Weg.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTOREN



Alina Pohl
(*1987) hat Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien und Geschichte an der Universität Wien studiert. Sie war mehrere Jahre in der angewandten Wirtschaftsforschung am Institut für Höhere Studien tätig und ist Mitarbeiterin bei der Querdenkerplattform Wien – Europa. Nebenberuflich engagiert sie sich im sozialen Non-Profit-Bereich. [ Privat]



Karl Aiginger (*1948) studierte Volkswirtschaftslehre an der Uni Wien. Er war Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo). Derzeit Chef der Querdenkerplattform Wien – Europa und Professor für Volkswirtschaft. Er leitete das Forschungsprojekt www.orEurope, in dem 33 europäische Teams eine neue Strategie für Europa entwarfen. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2016)

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