Warum man auch heute noch Marxist sein kann

Vor 150 Jahren wurde "Das Kapital" von Karl Marx veröffentlicht. Täglich bestätigt sich ein darin formuliertes Grundgesetz.

Karl Marx hat „Das Kapital“ vor 150 Jahren publiziert. Dort formuliert er das von ihm entdeckte, tagtäglich sich bestätigende Grundgesetz: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol.“ Dagegen behaupten die globalen Eliten durch ihre an den Herrschaftsstrukturen teilhabenden, korrupten politischen und ideologischen Bediensteten, erst der Reichtum treibe die Menschheitsgeschichte voran, was der weltweit sich ausbreitende Wohlstand beweise.

Der Abgrund zwischen reichen und armen Völkern bleibt gigantisch. Aber wie leicht lassen sich Menschen täuschen! „Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt“, resümiert Marx. Selbst die deutsche Nobellinke Sahra Wagenknecht begründet die Transformfähigkeit des Kapitalismus unter anderem damit, dass es in Deutschland keine Kinderarbeit mehr gebe. Das Wissen, dass „Wohlstand“ direkt von der brutalen Versklavung von Millionen Kindern profitiert, verschwindet.

Versklavte Kinder

In der früheren Sowjetrepublik Usbekistan in Zentralasien werden massenhaft Kinder auf die Baumwollfelder zum Pflücken getrieben. In Indien oder Bangladesch sind es die Textil- und Kleiderfabriken, in denen unzählige Kinder für das Kaufangebot der Warenhäuser des Westens angebunden werden.

Eine Säule des Wohlstands sind die Waffenexporte. Die auch mit Waffen aus deutscher Produktion getöteten, verwundeten und traumatisierten Kinder werden von der alltäglichen Erfahrung ausgeblendet. Im Kongo schürfen unter blutigen Bedingungen Kinder Seltene Erden als Rohstoff für die globalen Hersteller von Smartphones. Eine der politischen Voraussetzungen für diese Barbarei haben im Kongo die Monopole der kapitalistischen Weltmächte schon 1961 geschaffen, indem sie dessen ersten gewählten Ministerpräsidenten, Patrice Lumumba, der für die Beseitigung des Kolonialismus eingetreten war, ermorden haben lassen.

Solche Morde wurden vom US-Imperium für Lateinamerika systematisiert und auf Christen ausgedehnt, die das Herrschaftssystem mit seiner Dialektik von Reichtum und Armut praktisch infrage gestellt haben. Im November 1989 wurden sechs Jesuitenpatres in El Salvador im Auftrag der USA ermordet, um ihrer im Volk sich ausbreitende Parteinahme für eine Umkehrung der Geschichte ein Ende zu bereiten. Wenige Wochen nach diesen Morden und nach der illegalen Militärintervention der USA in Panama dankte Václav Havel im Kongress den USA für deren weltweiten Einsatz im Interesse der Freiheit.

Heinz Fischer, von österreichischen Leitmedien zur Symbolfigur „unserer Werte“ hochstilisiert, hat nach eigener Aussage Marx angelesen, nicht ohne hinterhältig zu versichern, eigentlich sei es ja Marx gewesen, der Josef Stalin das geistige Instrumentarium in die Hand gegeben habe. Lieber demonstriert Fischer seine Werte mit seiner öffentlich bekundeten und betonten Freundschaft zu Henry Kissinger, der für den Völkermord in Indochina mitverantwortlich ist, oder zu Schimon Peres, der für Israel die Unterdrückung des palästinensischen Volkes mit offener Gewalt und verdeckter Diplomatie als Ziel verfolgt hat.

Die Nato-Propaganda, dass die Angriffe auf Serbien 1999 ein „humanitärer Krieg“ gewesen seien, könnte direkt aus einer Ansprache von Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels stammen. Nach 2001 orientierte sich Deutschland, als es sich an der Militärintervention in Afghanistan beteiligte, das zweite Mal auf Krieg. Seither ist deutscher Kriegseinsatz und deutsche Rüstung eine selbstverständliche Option der Führungskräfte des friedlichen Europa.

„Gerechte Kriege“

Wie der 1973 ausgezeichnete Kissinger ist Barack Obama Friedensnobelpreisträger. Unmittelbar vor der Verleihung (2009) befahl Obama nach Drohnenaufklärung einen Angriff mit Raketen und Streubomben auf al-Majalah im Jemen. 2011 ließ er die US-Luftwaffe bei Nato-Bombardierung Libyens mitmachen. Iraks Erdölressourcen waren für die Kriegsverbrecher George Bush und Tony Blair die Motivation, 2003 den Angriffsbefehl auf den Irak zu geben.

Angela Merkel hat Deutschland den Aggressoren USA, Großbritannien, Türkei, Saudiarabien und Katar zugeführt, wobei sie zugleich behauptet, es müssten die Ursachen von Flucht und Migration bekämpft werden. Österreichs Außenminister, Sebastian Kurz, sekundiert in der ihm angemessenen Erbärmlichkeit an der EU-Mauer am Mittelmeer.

Alle diese illegalen Kriege werden von den Systemeliten und ihren Medien als „gerechte Kriege“ angepriesen. Solche Feststellungen über die Kriegsorientierung des Reichtums sind weder antideutsch noch antiamerikanisch – sie sind antikapitalistisch.

Herrschaft einer Minderheit

Es ist falsch, den Marxismus allein auf seine ökonomischen Analysen zu reduzieren. 1848 erhoffen Karl Marx und Friedrich Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ die Ablösung der sich aus den Eigentums- und Machtverhältnissen ergebenden Klassengegensätze durch eine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Mit dem wirklichen Glück des Menschen erübrige sich dann für den Menschen auch die Religion als illusorisches Glück.

Der im Auftrag des amerikanischen Imperiums ermordete Befreiungstheologe Ignacio Ellacuría SJ dachte, dass die „Kreuzigungssituation“ der großen Mehrheit der Menschheit einer sozialen Ordnung entspringe, „die von einer Minderheit gefördert und aufrechterhalten wird. Diese Minderheit übt ihre Herrschaft durch ein Ensemble von Faktoren aus, die als solches Ensemble und in ihrer konkreten historischen Wirklichkeit als Sünde betrachtet werden müssen“.

Ellacuría lässt es nicht mit einem mitleidigen Blick bewenden, denn die „Tatsache der Kreuzigung und des Todes allein ist keine Erlösung“. Nur die Volksmassen selbst können sich aus den Ketten befreien und „durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen“ ihren Beitrag zur Schaffung des neuen Menschen und der neuen Erde leisten.

Rezepte gibt es keine

Mit der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ von 1917 in Russland wurde zwar das Ziel einer solchen Befreiung des Menschen nicht erreicht, aber die Möglichkeiten des Menschen sind damals global offenkundig geworden.

Was tun? Wladimir I. Lenin hat formuliert: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Praxis geben.“ Rezepte dafür gibt es keine. „Die Widersprüche sind die Hoffnungen“ – mit dem großen Marxisten Bertolt Brecht kann der Marxist so weiter denken und handeln!

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Univ.-Prof. i. R. Gerhard Oberkofler
(* in Innsbruck) studierte Geschichte und Kunstgeschichte, ist Wissenschaftshistoriker und leitete 19 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung das Innsbrucker Uniarchiv. Zahlreiche Publikationen, zuletzt ein Buch über den Schweizer Marxisten Konrad Farner sowie Fragmente zum Gedenken an den Friedenskämpfer Daniel Berrigan SJ. [ Internet ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2017)

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