Gastkommentar

100 Tage Trump: „Nur die Ruhe, Freunde“

Donald Trumps Präsidentschaft stellt keine fundamentale Gefahr für das politische System der USA dar. Aber sie offenbart tiefverwurzelte innere Probleme des Landes – so etwa die wachsende soziale und regionale Ungleichheit.

Bei meinen zahlreichen Auslandsreisen treffe ich immer wieder Freunde und Bekannte, die mich oft mehr oder weniger fassungslos fragen: Was um Himmels willen geschieht in deiner Heimat? Darauf kann ich dann nur antworten: Erstens sollte man die Wahl von 2016 nicht falsch interpretieren. Entgegen einigen Kommentaren wurde das politische System der USA keineswegs von einer populistischen Welle überschwemmt. Die USA haben eine lange Geschichte der Rebellion gegen die Eliten. Donald Trump knüpft nur an eine Tradition an.

Und trotzdem bekam er fast drei Millionen weniger Wählerstimmen als seine Gegnerin. Die Wahl gewann er, weil er den Unmut der Bevölkerung dreier Staaten des Rostgürtels, die früher demokratisch gewählt hatten, für sich nutzen konnte – in Michigan, Pennsylvania and Wisconsin.

Hoffnung auf frischen Wind

Trumps Sieg lässt aber ein echtes Problem, die wachsende soziale und regionale Ungleichheit in den USA, zutage treten. Forschungen der Princeton-Ökonomen Anne Case und Angus Deaton zeigen, dass die demografischen Trends unter gering verdienenden Weißen ohne Hochschulabschluss heute schlechter sind als diejenigen unter Afroamerikanern, die früher meist die Hauptlast der Ungleichheit zu tragen hatten. 2015 lag die Sterblichkeitsrate der Weißen ohne Schulabschluss um 30 Prozent höher als diejenige der Afroamerikaner; 1999 war sie noch 30 Prozent niedriger.

Darüber hinaus ist die Anzahl der Arbeitsplätze in der Produktion, die einst eine wichtige Einkommensquelle für Weiße der Arbeiterklasse waren, stark zurückgegangen – auf nur zwölf Prozent der Erwerbstätigen. Diese ehemals demokratischen Wähler glauben den Versprechungen Trumps, für frischen Wind zu sorgen und Jobs zurückzubringen. Ironischerweise könnte sich ihre Lebensqualität durch Trumps Absicht, die Gesundheitsgesetze von Präsident Barack Obamas rückgängig zu machen, erheblich verschlechtern.

Zweitens bitte ich meine ausländischen Freunde, Trumps kommunikative Fähigkeiten nicht zu unterschätzen. Viele fühlen sich durch seine Twitterattacken und seine skandalöse Missachtung von Tatsachen abgestoßen. Aber Trump ist ein Veteran des Reality-TV. Dort hat er gelernt, dass der Schlüssel zum Erfolg darin besteht, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu monopolisieren – und dass die Wahrheit dabei weniger eine Rolle spielt als extreme Aussagen.

Über Twitter kann er seine Agenda veröffentlichen und seine Kritiker ablenken. Seine Botschaften, über die sich die Kommentatoren beschweren, sind für seine Anhänger kein Problem. Wenn es aber nicht mehr um eine permanent selbstbezogene Wahlkampagne geht, sondern um den Versuch zu regieren, wird Twitter zu einem zweischneidigen Schwert, das die fürs Regieren notwendigen Verbündeten abschreckt.

Kein normales Verhalten

Drittens erkläre ich meinen Freunden, dass sie von Trump kein normales Verhalten erwarten sollten. Normalerweise bewegt sich ein Präsident, der die Unterstützung der Mehrheit verliert, auf die politische Mitte zu, um zusätzliche Unterstützung zu gewinnen. Wie das geht, hat uns 2001 George W. Bush gezeigt. Trump hingegen behauptet, die Mehrheit hinter sich zu haben – und verhält sich auch so, indem er sich nur um seine eigene Wählerbasis kümmert.

Während Trump für das Innen-, Außen- und Verteidigungsministerium gemäßigte Kandidaten ernannt hat, stammen seine Minister für Umweltschutz und Gesundheit aus den extremen Randbereichen der Republikanischen Partei. Sein Personal im Weißen Haus besteht sowohl aus Pragmatikern als auch aus Ideologen, und um beide Gruppen muss er sich kümmern.

System gegenseitiger Kontrolle

Viertens sollte man die US-Institutionen nicht unterschätzen. Meine Freunde fragen, ob Trump ein gefährlicher Narziss wie Mussolini sei. Ich rate ihnen, sich keine Sorgen zu machen. Trotz aller Probleme sind die USA 2017 nicht mit Italien 1922 vergleichbar. Unsere politischen Eliten sind oft zerstritten, aber das war bereits bei den Gründervätern so.

Das Ziel ihrer Verfassung war nicht, eine harmonische Regierung zu gewährleisten, sondern durch ein System gegenseitiger Kontrolle zu verhindern, dass ungezügelt politische Macht ausgeübt wird. Effizienz wurde geopfert, um Freiheit zu sichern.

Trump wird am Samstag gerade 100 Tage im Amt sein – und wir können nicht wissen, was etwa nach einer großen Terrorattacke passieren könnte. Bis jetzt aber sind die Gerichte, der Kongress und die Bundesstaaten ihren Kontrollfunktionen durchaus gerecht geworden – ganz im Sinne Madisons. Und die alteingesessenen Beamten in den Ministerien sorgen für die nötige Bodenhaftung.

Und schließlich fragen meine Freunde, was all das für die US-Außenpolitik und die internationale liberale Ordnung bedeutet. Offen gesagt: Ich weiß es nicht, aber der Aufstieg Chinas macht mir weniger Sorgen als der Aufstieg Trumps.

Auch wenn sich US-Präsidenten immer wieder über Trittbrettfahrerei beschwerten, waren die USA lange Zeit der Hauptgarant für wichtige öffentliche Güter: Sicherheit, eine stabile internationale Reservewährung, relativ offene Märkte und die Verwaltung der weltweiten Interessen.

Bereit zu globaler Kooperation?

Trotz vieler Probleme ist die Welt unter Führung der USA vorangekommen und konnte die Armut verringern. Ob das so weitergeht, wissen wir nicht. Um staatenübergreifende Probleme aber lösen zu können, müssen die USA mit China, Europa, Japan und anderen Ländern zusammenarbeiten.

Im Wahlkampf 2016 war Trump der erste Kandidat der vergangenen 70 Jahre, der das US-Bündnissystem infrage stellte. Seit er aber sein Amt angetreten hat, lassen seine Aussagen und diejenigen seiner Minister vermuten, dass dieses System so bleibt, wie es ist. Immerhin ist die harte und weiche Macht der USA letztlich darauf zurückzuführen, dass sie über 60 Verbündete an ihrer Seite haben – während China nur wenige hat.

Aber ob auch die multilateralen Institutionen stabil bleiben, die zur Ordnung der Weltwirtschaft und des globalen Allgemeinguts beitragen, ist weniger sicher. Trumps Haushaltsdirektor kündigt ein machtpolitisches Budget an. Er will Mittel aus dem Außenministerium und dem System der Vereinten Nationen abziehen.

Andere Beamte setzen sich dafür ein, multilaterale Handelsabkommen durch „faire und ausgeglichene“ bilaterale Lösungen zu ersetzen. Trump selbst ist dabei, Obamas Klimaschutzbemühungen rückgängig zu machen. Ich würde meinen Freunden ihre Sorgen über diese Themen gern abnehmen, aber das kann ich nicht.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff. Copyright: Project Syndicate, 2017.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Joseph S. Nye (*1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993–1994) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994–1995). Er gilt als außenpolitischer Vordenker und prägte das Konzept der „weichen/harten Macht“. Sein jüngstes Buch: „Is the American Century Over?“ [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2017)

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