Mehr Demokratie oder nur mehr Demagogie?

Die FPÖ erklärt mehr direkte Demokratie zur Koalitionsbedingung. Wer darauf eingeht, stärkt nicht die Demokratie.

Die FPÖ fordert mehr direkte Demokratie, vor allem die Möglichkeit zur Volksgesetzgebung, zu Vetoreferenden, Volksbefragungen als Minderheitenrecht und verpflichtende Volksabstimmungen über erfolgreiche Volksbegehren.

Tatsächlich zeigen kantonale Vergleichsstudien der Schweiz, dass häufigere Volksabstimmungen Bürgerinnen und Bürger politisch zufriedener machen, und den Staat effizienter. Das sind gewichtige Argumente. Außerdem entkräftet das Schweizer Beispiel zumindest teilweise zwei Gegenargumente: die Gefahren einer demokratischen Selbstausschaltung und einer „Diktatur der Mehrheit“ über strukturelle Minderheiten.

Solange Rechtsstaatlichkeit, Meinungs-, Medien- und Oppositionsfreiheit nicht schon zuvor beseitigt wurden wie jüngst vor dem Verfassungsreferendum in der Türkei, findet sich schwer eine Mehrheit für die Beseitigung der Demokratie. Und autochthone Minderheiten müssen Volksabstimmungen zumindest in der Schweiz nicht fürchten. Ob sie es auch in Österreich nicht müssten, sei dahingestellt: Hier dominiert die deutsche Sprachgruppe nämlich unvergleichlich stärker als in der Schweiz und konnten Landesregierungen schon ungestraft Minderheitenrechte verletzen, selbst wenn sie vom Verfassungsgerichtshof eingemahnt wurden.

Lehrreiches Schweizer Beispiel

Lehrreich ist das Schweizer Beispiel beim Schutz exogener Minderheiten: In Einwanderungs- und Asylfragen finden sich in Volksabstimmungen leichter Mehrheiten für Diskriminierung und Integrationshürden als im Parlament. Das gehört ja auch zu dem, was die FPÖ sich und den Wählern von mehr Direktdemokratie verspricht. Freilich zeigt sich schon hier, dass mehr Direktdemokratie nicht unbedingt mehr Demokratie bringt. Denn zur modernen Demokratie gehört von jeher mehr als politische Mitbestimmung. Zwei wichtige Dinge kommen hinzu: Das eine ist ein umfassender Grundrechtsschutz, also die Sicherung von Menschen- und Bürgerrechten (inklusive Asylrechts). Wobei die Europäische Konvention für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Grundrechtsschutz auch auf europäischer Ebene absichert – eine der demokratiepolitischen Hauptleistungen der Europäischen Integration.

Gibt es nicht zu denken, wenn die FPÖ in ihrem Wahlprogramm vorschlägt, die Europäische Konvention für Menschenrechte durch eine österreichische Konvention zu ersetzen, die weniger weit gehen soll und die man nur mehr in Wien würde einklagen können, nicht auch in Straßburg?

Nun garantiert selbst ein umfassender Grundrechtsschutz noch nicht, dass mehr politische Partizipation auch mehr Demokratie bringt. Zur modernen Demokratie gehört noch ein drittes: die Demokratisierung der Gesellschaft – die Öffnung sozialer Schranken, Chancengleichheit.

Die Politikwissenschaft spricht auch von „Inklusion“. Schon für Alexis de Tocqueville, den französischen Analytiker der Vereinigten Staaten von Amerika im frühen 19. Jahrhundert, war die Angleichung der Lebensverhältnisse das hervorstechendste Merkmal der Demokratie.

Wie demokratisch Forderungen nach mehr direkter Demokratie sind, lässt sich also gut daran messen, welche Haltung in Grundrechts- und Inklusionsfragen damit einhergeht. So gehört es von jeher zu den Paradoxen des Populismus mit seiner typischen Eliten- und Fremdenfeindlichkeit, dass er das Volk in die Politik direkter einbeziehen will, um Unliebsame leichter vom Volk auszuschließen: vom Wahlvolk, von der Gesellschaft – und von der Macht.

Andere Spielregeln gewünscht

Wenn populistische Parteien, erst recht so etablierte wie die FPÖ, mehr direkte Demokratie fordern, dann steckt dahinter nämlich nicht nur eine eliten- und fremdenfeindliche Ideologie, sondern auch Machtpolitik. Wegen ihres Populismus kommen populistische Parteien ja meist schwerer an die Macht als andere Parteien und können sich, wenn sie es schaffen, dort nur schwerer halten, wenn sie nicht wie in Polen und Ungarn die Gewaltenteilung und die Grundrechte aushöhlen.

Was aber wünschen sich Spieler, die sich mit den Spielregeln schwertun? Andere Spielregeln! Deshalb wünschen sich Populisten von jeher mehr Direktdemokratie. Es geht ihnen nicht um mehr Demokratie, sondern um eine andere, populistischere Demokratie.

Die moderne Demokratie wurde im bewussten Gegensatz zur antiken Demokratie als Repräsentativdemokratie konzipiert. Nicht nur, weil Direktdemokratie in Staaten, die wesentlich größer als antike Stadtstaaten sind, unmöglich schien. Sondern, weil die Gründungsväter der modernen Demokratien Ende des 18. Jahrhunderts ihren Aristoteles gelesen hatten und die Direktdemokratie als zu anfällig für Demagogie sahen.

Hat das Volk immer recht?

Ein gutes Beispiel für Demagogie ist der Spruch: „Das Volk hat immer recht.“ Natürlich ist Irren auch in der Wahlzelle menschlich, nicht bloß im Parlament. Nur, dass sich Volksentscheide sehr viel schwerer korrigieren lassen als Parlamentsbeschlüsse. Die Briten wissen gerade ein Lied davon zu singen.

Was bringen Volksbefragungen, Volksabstimmungen, Vetoreferenden, noch bevor sie stattfinden? Abstimmungskampagnen! Kampagnen, auf die sich populistische Parteien besser verstehen als auf normale Parlaments- oder gar Regierungsarbeit – und besser als jene Parteien, die auf weniger Populismus setzen.

Mit Abstimmungskampagnen– ja schon deren bloßer Androhung! – können populistische Parteien daher einen Druck aufbauen, der in keinem Verhältnis zu ihrer Stärke im Repräsentativsystem steht: Druck auf das Parlament, wenn sie allein regieren, Druck auf Regierungspartner, wenn sie in einer Regierungskoalition, und Druck auf die Regierung, wenn sie in der Opposition sind. Womit das Risiko steigt, dass der Populismus auf Dauer dominiert, nicht mehr nur vor Parlamentswahlen.

Die Macht des Geldes

Auch dafür liefert die Schweiz ein trauriges Beispiel. Dort treibt ein populistischer Industrie- und Medienmogul Regierungen, Parlament und Bevölkerung seit einem Vierteljahrhundert vor sich her.

Womit ein weiteres Problem ins Auge fällt: Wie bei Wahlkämpfen kommt es auch bei Volksabstimmungen nicht zuletzt darauf an, wie viel Geld jede Seite einsetzt. Nur, dass Abstimmungskampagnen finanzkräftigen Privatinteressen oft noch bessere Einflussmöglichkeiten eröffnen als allgemeine Wahlkämpfe.

Gar nicht zu reden von den Möglichkeiten zur Manipulation von außen, wie sie bei den US-Präsidentschaftswahlen aufflogen. Die Manipulationsmöglichkeiten und die Fragmentierung der Öffentlichkeit durch die sozialen Medien haben die Hoffnung auf neue direktdemokratische Möglichkeiten durch „elektronische Demokratie“ bis auf Weiteres zerstört.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Mag. Dr. Thomas Angerer (*1965 in Wien) studierte Geschichte und Französistik an der Universität Wien. Er ist Assistenzprofessor für neuere Geschichte an der Universität Wien und Lehrbeauftragter an der Diplomatischen Akademie Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Frankreichs und die Geschichte der französisch-österreichischen Beziehungen seit 1918 sowie die Geschichte der europäischen Integration. [ Universität Wien ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2017)

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