Gastkommentar

Nicht Einwanderung, die Auswanderung wird zur Gefahr

Ungarn sperrt sich gegen 1294 aufzunehmende Asylsuchende. Gleichzeitig haben das Land fast 600.000 Bürger verlassen.

Viktor Orbán sprach im April in Brüssel davon, dass die Lösung der Flüchtlingskrise einerseits die Aufgabe Europas, andererseits auch eine Schicksalsfrage für Ungarn sei, weil zwei Kulturen aufeinanderstoßen würden: die europäische, die Kirche und Staat trenne und die moslemische, die diese Trennung ablehne.

Diese Aussage beinhaltet zwei Behauptungen: eine irreführende und eine, die vom Wesentlichen ablenken will. Irreführend ist, wenn der Orbán die Trennung von Kirche und Staat als Teil der europäischen Rechtsordnung hinstellt. Noch dazu in Zeiten, in denen im Land, das er regiert, sich Kirche und Staat intensiv verflechten.

Orbán tut und spricht so, als wüsste er nicht, wie schnell der Klerus sich ins Unterrichtswesen einmischt, wie weitere Funktionen des Staates durch kirchliche Organisationen übernommen werden, wie Kirche und Staat entsprechend zusammenrücken. Es ist ihm auch bewusst, dass für die Bewältigung dieser Aufgaben die kirchlichen Schulen von seiner Regierung wesentlich höhere finanzielle Zuwendung erhalten als die staatlichen.

Was seine andere Behauptung betrifft, wonach die Frage der Migration Ungarns Schicksalsfrage sei, könnte er sogar Recht haben. Denn die Zahlen belegen, dass die Auswanderung aus Ungarn ein viel größeres Problem ist, als die Einwanderung. Das ist vermutlich die wahre Tragödie. Während „Europas starker Mann“ wegen 1294 aufzunehmenden Asylsuchenden einen Krieg gegen Brüssel führt, scheint ihm die tragische Tatsache entgangen zu sein, dass wir Ungarn allmählich weniger werden.

Bald eine Million im Ausland?

Laut verlässlicher Statistik arbeiteten Ende 2013 580.000 ungarische Staatsbürger im europäischen Ausland. Laut Prognosen wird diese Zahl 2017 höchstwahrscheinlich 600.000 überschreiten und in einigen Jahren dürfte sie die eine Million erreichen. Das wären über zehn Prozent der arbeitsfähigen Ungarn. Dieser starke Trend ruft auch nach wirksamen Maßnahmen, aber Orbán und seine Regierung schert das nicht. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass zur Minderung der Auswanderung umfassende, gesellschaftspolitische Maßnahmen erforderlich wären, die diese Regierung überfordern würden. Der andere zynische Gesichtspunkt: Die Überweisungen der im Ausland arbeitenden Ungarn erreichen bald eine Milliarde Euro, einen beträchtlicher Teil des ungarischen Staatshaushaltes. Darauf will die Regierung natürlich nicht verzichten.

„Junge, bleib lieber dort“

Ungeachtet aller Erklärungen hat die Regierung nicht die Absicht, diese vorwiegend jungen Menschen nach Hause zu holen. Paradebeispiel für politische Heuchelei war im Frühjahr 2015 das staatliche Vorhaben mit dem Slogan „Junge, komm‘ heim!“ Absicht war angeblich, die Heimkehr der jungen Menschen mit Hilfe eines Zuschusses und mit Arbeitsplatzangeboten zu unterstützen.

So ganz ernst musste man das nicht nehmen. Dementsprechend hatten die Absichtserklärung unter mehreren Hunderttausend Angesprochenen nur 105 Personen ausgefüllt. Ein Jahr später blies der Wirtschaftsminister die Aktion „Junge, komm' heim!“ offiziell ab. Mehrere Jugendliche hatten ihre Arbeitsstelle im Ausland bereits gekündigt, doch das in Aussicht gestellte Startkapital von der Regierung nicht erhalten.

Da Orbán und seine Leute wissen, dass ein Großteil der emigrierten Ungarn eher mit der Opposition sympathisiert, hat man ihnen die Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen, erschwert. Das unlängst verabschiedete Wahlgesetz schreibt nämlich vor, dass Bürger, die in Ungarn wohnhaft sind, aber am Wahltag im Ausland sind, ihre Stimme nur persönlich an einer diplomatischen Vertretung abgeben könnten. In vielen Fällen ist das mit langen und kostspieligen Reisen verbunden.

Demgegenüber können Angehörige der ungarischen Minderheit in den Nachbarländern ohne Wohnadresse in Ungarn per Briefwahl abstimmen. Diese Leute konnten nämlich ihre zweite – nämlich die ungarische Staatsbürgerschaft – wieder erlangen. Die Zahlen sprechen für sich: Bei den Parlamentswahlen 2014 haben weltweit insgesamt 24.119 Menschen in den diplomatischen Vertretungen abgestimmt. An der Briefwahl haben 128.429 Personen, alle ohne ungarischen Wohnsitz, teilgenommen; davon stimmten laut Mitteilung der Wahlkommission 122.638 für die Fidesz.

Der Historiker Géza Komoróczy erklärte vor kurzem, dass eine der Ursachen für Einwanderung und Auswanderung in der ungleichen demografischen Entwicklung zu suchen sei. Menschen fliehen heutzutage vor Krieg – und wo sie sich niederlassen, dort wird die Demografie beeinflusst. Wandern Menschen von einem Gebiet aus, wandern andere dort ein.

Eine schleierhafte Aussage

Damit es sich für die Ungarn lohnt, in ihrer Heimat zu bleiben, braucht man ein Gesundheitssystem und Ausbildungsmöglichkeiten mit Qualität. Des Weiteren bedarf es der Abschaffung der alles durchdringenden Korruption und des Untertanenstaates. Das ist garantiert weniger spektakulär als die Anwendung von Gewalt gegen Hilfsbedürftige, gewährleistet jedoch den langfristigen Erfolg.

Das unterstreicht auch die etwas schleierhafte Aussage von Viktor Orbán kürzlich im Staatsrundfunk: Er forderte eine militärische Einmischung in Libyen, um die Migranten zu stoppen. Wie er sich das im Detail vorstellt, wollte er im Radio nicht beantworten, weil „militärische Aktionen werden nicht hier erörtert“.

DER AUTOR

Zoltán Kovács (*1952) – nicht zu verwechseln mit gleichnamigen Sprecher der Regierung von Viktor Orbán – ist Schriftsteller und Publizist. Seit 1987 Redakteur, seit 1993 Chefredakteur der renommierten Budapester Wochenzeitung „Élet és Irodalom“ (Leben und Literatur). Ausgezeichnet 1996 mit dem Pro Literatura-Preis, 1998 mit dem Joseph Pulitzer Preis.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2017)

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