Gastkommentar

Pendel schwingt in Richtung Dezentralisierung

Die Konzentration von immer mehr Macht bei den Zentralregierungen hat zuletzt in vielen Teilen der Welt eine Gegenreaktion ausgelöst. Die Bürger plagt das Gefühl, dass ihre Souveränität ausgehöhlt worden ist.

Vor einigen Jahren habe ich prognostiziert, dass es – bedingt durch das Versäumnis von politischen Institutionen, wirtschaftliche, kulturelle, ethnische und religiöse Unterschiede zu bewältigen – weltweit eine tektonische Verschiebung in Richtung Regionalisierung, Sezession und Unabhängigkeit geben würde.

Supranationale wirtschaftliche und politische Einrichtungen, die mehr Macht bei den Zentralregierungen konzentrierten, waren eindeutig dabei, eine Gegenreaktion auszulösen. In vielen Ländern hatten die Bürger zunehmend das Gefühl, dass ihre Souveränität ausgehöhlt worden war. Und sie machten sich angesichts der langsamen Erholung von der großen Rezession, des geringen Produktivitätswachstums und des schrumpfenden Anteils der Arbeit an den Einkommen Sorgen, dass die Kosten der zunehmenden Einwanderung zu hoch seien.

Trend zu Scheidungen

Inzwischen hat sich das Vereinigte Königreich zum Austritt aus der EU entschlossen. Es laufen nun „Scheidungsgespräche“, um zu ermitteln, wie viel die Briten der EU zahlen werden und wie die künftigen Handelsbeziehungen aussehen sollen. Der Prozess ist nicht einfach. Denn die EU-Verhandlungsführer fürchten, dass bei zu großzügigen Austrittsbedingungen andere Mitgliedstaaten den Briten folgen und die Union verlassen könnten.

Zugleich haben sich die USA unter Präsident Donald Trump aus der Transpazifischen Partnerschaft zurückgezogen und die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft mit der EU (TTIP) aufgegeben. Sie drohen, auch aus dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) auszusteigen, sofern Mexiko und Kanada keine Zugeständnisse machen.

In Spanien strebte die inzwischen abgesetzte Regierung der halbautonomen Region Katalonien nach Unabhängigkeit und löste eine Staatskrise aus. Mehr als 90 Prozent derjenigen, die sich an den jüngsten Referenden in der Lombardei und in Venetien, Italiens reichsten Regionen, beteiligten, stimmten für mehr Kontrolle über die lokalen Bildungsausgaben und Steuern. Dabei hatten diese Wähler mit Sicherheit Italiens enorme Staatsverschuldung und seine Subventionen an ärmere Regionen im Hinterkopf.

Im Irak versucht die Regionalregierung Kurdistans nach einem von ihr Ende September abgehaltenen Unabhängigkeitsreferendum nun, mit der Zentralregierung in Bagdad zu verhandeln, die Truppen entsandt hat, um die Ölfelder der Region wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Und der chinesische Präsident Xi Jinping hat den 19. Parteitag der chinesischen KP genutzt, um seine Position weiter zu konsolidieren, indem er mehr Macht von den Provinzen auf die Zentralregierung verlagert.

Selbst in seit Langem für ihre Stabilität bekannten Ländern gibt es eindeutige Spannungen zwischen zentraler und dezentraler politischer Autorität. So versucht derzeit beispielsweise eine Gruppe namens Calexit in Kalifornien einen Wählerentscheid über die Abspaltung von den USA durchzusetzen. Laut ersten Meinungsumfragen würde ein Drittel der Kalifornier eine solche Initiative unterstützen. In Europa schiebt die EU, statt ihre Krisen im Bereich der Staatsverschuldung, im Bankensektor und bei der Arbeitslosigkeit in Angriff zu nehmen, die Probleme weiterhin auf die lange Bank. Die EU-Regierungen hoffen, dass ein moderater zyklischer Aufschwung ihnen Zeit kaufen wird.

Ausweg direkte Demokratie?

Doch letztlich werden sie sich einem Kernproblem stellen müssen: Deutschland, das am meisten von der Währungsunion profitiert hat, in der seine Handelspartner keine Währung haben, die sie abwerten können, will nicht die Zeche für die Rettung von verschwenderischen Mitgliedstaaten zahlen. Es überrascht also möglicherweise nicht, dass laut einer aktuellen Meinungsumfrage des Pew Research Center 70 Prozent der Europäer, Kanadier und Amerikaner eine direktere Demokratie befürworten, „bei der die Bürger und nicht gewählte Funktionsträger über wichtige Fragen abstimmen“. Amerikas Gründerväter, die die direkte Demokratie als Vorstufe zur Herrschaft des Pöbels betrachteten und ein System wechselseitiger Kontrollmechanismen einrichteten, um ebendiese zu verhindern, würde dies mit Schrecken erfüllen.

Jedes der oben genannten Beispiele der Zentralisierung und Regionalisierung ist einzigartig. Aber es lohnt sich zu fragen, ob sie Gemeinsamkeiten aufweisen.

Als der verstorbene, mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom Robert Mundell – der „geistige Vater des Euro“ – sich aufmachte, einen optimalen Währungsraum zu konzipieren, legte er großes Gewicht auf natürlichen Handel und gesamtwirtschaftliche Verknüpfungen. Als Kanadier fiel ihm die „horizontale“ Beschaffenheit der kanadischen und amerikanischen Währungsräume auf. Nach seinem Verständnis wären „vertikale“ Räume, die den kanadischen und amerikanischen Westen umfassten, wirtschaftlich möglicherweise sinnvoller.

Mundells Erkenntnis lässt sich stark verallgemeinern. Es bilden und vereinen sich infolge widerstreitender Zentrifugal- und Zentripetalkräfte ständig Wirtschaftsräume und lösen sich wieder auf. Ständige Veränderungen bei Wettbewerbsvorteilen, Skaleneffekten und Transaktionskosten wirken sich auf die Vorteile aus, die es hat, homogeneren lokalisierten Präferenzen nachzugeben.

Genauso verändern sich „optimale“ politische Räume im Laufe der Zeit aufgrund des technologischen und demografischen Wandels und ihrer Interaktion mit sich weiterentwickelnden kulturellen, ethnischen, religiösen und anderen Faktoren. Diese Prozesse des Zusammenkommens und Auseinanderfallens können positiv oder schädlich sein.

Effizient regieren

Die EU ist mit Sicherheit ein großer Erfolg als Handelsraum, aber weniger als integrierter Arbeitsmarkt und als Währungsunion. Und als Banken- und Haushaltsraum ist sie komplett gescheitert.

Oder man betrachte den indischen Subkontinent, wo einander misstrauisch beäugende, mit nuklearen Sprengköpfen bewaffnete Nachbarn eine Gefahr für sich und ihre Nachbarn darstellen.

Angesichts der Tatsache, dass in Indien noch immer fast genauso viele Muslime leben wie in Pakistan, könnte es sein, dass sich die religiösen Spannungen innerhalb der Grenzen eines einzigen Landes hätten reduzieren lassen. Nach meiner Schätzung müsste das Handelsvolumen zwischen Pakistan und Indien eigentlich 25 Mal höher sein, als es das heute ist. Davon würden beide Länder enorm profitieren.

Effizient zu regieren ist in einem Kontext wirtschaftlicher, politischer, ethnischer und religiöser Vielfalt nicht einfach. Es jedoch nicht zu tun, kann erheblich weniger Wachstum bedeuten – und erheblich größere politische Risken.

Aus dem Englischen von Jan Doolan
Copyright: Project Syndicate, 2017

DER AUTOR

Michael J. Boskin (geboren 1945 in New York) studierte Wirtschaftswissenschaften in Berkeley. Derzeit ist er Professor für Ökonomie an der Universität Stanford und Senior Fellow der Hoover Institution. Von 1989 bis 1993 war er Chef des wirtschaftlichen Beraterstabs des damaligen amerikanischen Präsidenten, George Bush senior.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2017)

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