Gastkommentar

Ist mehr direkte Demokratie notwendig?

Die Politik handelt im Auftrag der Wähler. Wie können diese sicher sein, dass die Politik im Interesse der Mehrheit handelt?

Die neue Regierung will die Politik näher an die Wähler heranführen. Schritt für Schritt will sie die direkte Demokratie ausbauen. Warum soll das notwendig sein? Kann mehr direkte Demokratie das Politikergebnis verbessern? Ist die direktdemokratische Kultur der Schweiz übertragbar?

Die Politik handelt im Auftrag der Bürger. Welche Aufgaben in welchem Umfang der Staat übernehmen soll und wie diese zu finanzieren sind, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Am Ende gibt es nur eine Entscheidung. Wie können die Wähler sicher sein, dass die Politik tatsächlich im Interesse der großen Mehrheit handelt?

Volksabstimmungen kommen auf mehrere Arten zustande, durch Bürgerinitiativen, wenn die Mindestquote für Unterschriften vorliegt, auf Beschluss der Regierung; sie können sogar obligatorisch sein. Direktdemokratische Rechte können die parlamentarische Demokratie nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Dabei sind die Initiativen auf Gesetzmäßigkeit zu überprüfen. Sie dürfen zum Beispiel nicht gegen Grundrechte und Minderheitenschutz verstoßen.

Anfällig für Demagogie

In der Schweiz gibt es mehrere Abstimmungstermine im Jahr, bei denen neben nationalen Fragen eine Vielzahl von Vorhaben der Kantone und Gemeinden zur Abstimmung kommt. Die Angelegenheiten der Gemeinden sind am ehesten überschaubar und verständlich. Die nationalen Entscheide wie zum Beispiel jüngst zur Unternehmenssteuerreform oder Masseneinwanderungsinitiative sind wesentlich komplexer oder weltanschaulich besonders strittig.

Kann direkte Demokratie dem Wählerwillen mehr Geltung verschaffen? Der Wettbewerb der Parteien treibt zwar die Politik tendenziell in die Mitte, wo die meisten Stimmen zu holen sind. Aber auch die repräsentative Demokratie ist anfällig für demagogische Bewegungen. Die Volksvertreter sind oft versucht, die eigene Klientel und einflussreiche Interessengruppen auf Kosten der großen Mehrheit zu begünstigen.

Initiativen können politische Entscheidungen korrigieren oder Anliegen zur Abstimmung bringen, welche die Parteien nicht aufgreifen. Mitunter kann bereits die Androhung eines Referendums die Politik zu Korrekturen veranlassen. Abstimmungen können politische Blockaden auflösen, indem der Wähler ein Machtwort spricht.

Ein häufiger Einwand gegen direkte Demokratie ist die mangelnde Information der Wähler. Ein erschreckend geringes Verständnis der Abstimmungsvorlagen, eine hohe Mobilisierung von betroffenen Gruppen im Vergleich zur schweigenden Mehrheit, die emotionale Empfänglichkeit vieler Wähler für demagogische Argumente, und die Manipulation durch Interessengruppen könnten den tatsächlichen Wählerwillen verfälschen.

Das Endresultat kann dennoch ein verlässliches Bild des Wählerwillens liefern, da die große Zahl an Stimmen die Zufälligkeiten individueller Wahlentscheidungen ausgleicht. Nicht alle Wähler sind gut informiert und engagiert. Viele verlassen sich auf Empfehlungen von Medien, Interessenvertretungen und Experten, denen sie vertrauen. Qualität, Unabhängigkeit und Wettbewerb der Medien und die Vielfalt unabhängiger Experten sind für das Funktionieren der direkten wie der repräsentativen Demokratie gleich entscheidend.

Der Einwand mangelnder Information wendet sich nicht nur gegen direkte, sondern gegen jegliche Form der Demokratie. Die Wähler können sich nicht ständig in ihren eigenen Interessen irren. Sollten einzelne Wahlergebnisse von Zufälligkeiten geprägt sein, dann spricht dies eher für mehr direkte Demokratie.

Positive Veränderungen

Indem Sachfragen separat zur Abstimmung kommen, können die negativen Folgen eines manipulierten Wählerwillens auf einzelne Angelegenheiten begrenzt werden, anstatt das gesamte politische Programm über mehrere Jahre der Zufälligkeit einer einzigen Wahlentscheidung auszusetzen.

Direkte Demokratie kann die Ergebnisse der Politik verändern. Die Forschung zeigt, dass regelmäßige Abstimmungen eher ausgaben- und steuersenkend wirken; dass sie tendenziell zu mehr Dezentralisierung führen, wo die Politik näher bei den Wählern ist; und dass sie die Finanzierung eher von allgemeinen Steuern auf Gebühren verlagert, damit die tatsächlichen Nutzer für die staatlichen Leistungen zahlen. Wenn es überhaupt verlässliche Auswirkungen auf das Wachstum gibt, dann sind diese eher positiv.

Tendenziell führt direkte Demokratie zu weniger Verschuldung. Sie stärkt auch die Legitimation der Politik und fördert die Steuerehrlichkeit und das Vertrauen in den Staat. Die Bürger stellen kaum infrage, was sie selbst entschieden haben.

Es geht regelmäßig ums Geld!

In der Schweiz unterscheiden sich die Kantone und Gemeinden im Ausmaß der direkten Demokratie. In vielen Gemeinden können die Wähler in Gemeindeversammlungen abstimmen. Ein beträchtlicher Teil kennt sogar obligatorische Abstimmungen über größere Ausgaben- oder Steueränderungen.

In anderen Gemeinden gibt es nur fakultative oder gar keine Abstimmungen. Es zeigt sich, dass in direktdemokratisch organisierten Gemeinden Ausgaben und Steuern eher niedriger sind als in vergleichbaren Gemeinden mit wenig direkter Demokratie.

Der Unterschied ist besonders groß in Kantonen, in denen der Steuerwettbewerb zwischen Gemeinden schwach ausgeprägt ist. Demnach kann eine starke direkte Demokratie die Disziplin eines fehlenden Steuerwettbewerbs ausgleichen. Umgekehrt kann der fiskalische Wettbewerb teilweise einen Mangel an direktdemokratischer Kontrolle kompensieren.

Das neue Regierungsprogramm setzt mehr auf eine Stärkung der bestehenden Möglichkeiten als auf einen grundsätzlichen Richtungswechsel. Es bleibt weit unter den Möglichkeiten der direkten Demokratie. Das Beispiel Schweiz zeigt jedoch einige Herausforderungen. Die Kultur direkter Demokratie in der Schweiz hat sich von unten entwickelt, beginnend bei den Gemeinden und Kantonen. Und es geht regelmäßig ums Geld! Wenn die Bürger über Politik abstimmen, kann nur was Vernünftiges rauskommen, wenn sie auch bezahlen müssen, was sie an Leistungen bestellen.

Diversifikation mindert Risiko

Deshalb braucht es auch eine Föderalismusreform mit Kompetenzentflechtung, Dezentralisierung nach dem Subsidiaritätsprinzip und einer Steuerautonomie der Gemeinden und Länder.

Direkte und repräsentative Demokratie haben spezifische Stärken und Schwächen. Kein System ist perfekt. Gerade deshalb bietet eine ausgewogene Mischung am ehesten Gewähr, dass die Politik nicht den Auftrag der Wähler aus dem Blick verliert. Diversifikation mindert das politische Risiko.

Das spricht für mehr direkte Demokratie in Österreich, beginnend auf der Gemeinde- und Landesebene bis hinauf zu grundsätzlichen nationalen Sachfragen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Christian Keuschnigg (geb. 1959 in St. Johann in Tirol) studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Innsbruck. 2012 bis 2015 war er Direktor des Institutes für Höhere Studien in Wien. Seit 2001 Professor für Nationalökonomie an der Universität St. Gallen. 2015 Gründer und seither Leiter des Wirtschaftspolitischen Zentrums in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2017)

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