Schwarze Pädagogik

Weder die moralische Verklemmtheit der katholischen Kirche noch der Sittenverfall durch die 68er ist schuld an den Missbrauchsfällen.

In den letzten Wochen wird die Schulwelt, nicht zuletzt die kirchliche, von zahlreichen Berichten über psychischen und physischen bis hin zu sexuellem Missbrauch erschüttert.

Es ist gut, dass die Opfer jetzt endlich Gehör finden, und dass die Täter und ihre Mitläufer wenn nicht immer juristisch, so doch wenigstens moralisch zur Verantwortung gezogen werden.

Wichtig ist, dass diese Vorfälle jetzt nicht nur zur Sprache kommen, sondern auch nach den Ursachen und Folgen geforscht wird. Nur muss man sich vor vorschnellen Vereinfachungen und billigen Beschuldigungen hüten. Beispielsweise ist es blanker Unsinn, für diese Vorfälle entweder eine moralische Verklemmtheit der katholischen Kirche oder im Gegenteil einen Sittenverfall durch die 68er haftbar zu machen. Dagegen sprechen historische wie empirische Argumente.

Solche Vorfälle sind weder neu noch einzigartig. Die schwarze Pädagogik des Missbrauchs hat eine wenigstens jahrhundertealte Geschichte. Was zum Teil neu und ein Fortschritt ist, ist, wenn über solche Vorfälle öffentlich gesprochen und mit Fingern auf die Verantwortlichen gezeigt wird. Dadurch wird es möglich, solchem Missbrauch jedweden Anschein der Normalität zu entziehen. Dabei war und ist diese schwarze Pädagogik kein Spezifikum einer bestimmten Kirche oder deren Einrichtungen. Es gab und es gibt sie leider quer durch alle Glaubensrichtungen und Gesellschaftsschichten. Sie hat auch nichts mit dem Zölibat oder anderen außerfamiliären Lebensformen zu tun, so als ob die eheliche Ableitung sexueller Energie Missbrauch verhindern könnte.

Denn dann könnte man kaum erklären, warum unstreitig der weitaus meiste Missbrauch im engsten Familienkreise stattfindet. Ebenso wenig ist eine bestimmte Schulform, etwa das Internat, für solche Vorfälle haftbar. Es gibt sie überall, wo Kinder schutzlos bösen Absichten ausgeliefert sind. Das kann in Familien und Internaten ebenso passieren wie in Jugendvereinen, auf dem Spielplatz oder in der Jungschar. Missbrauch ist ein Charakteristikum „totaler Institutionen“ (Goffman) und Situationen, die den ganzen Menschen für sich beanspruchen und dadurch Grenzen der individuellen Integrität auflösen.

Solche Totalität kann freundlich oder mit Strenge, lockend oder zwingend einherkommen. Oft ist sie in ihrer Widersprüchlichkeit so umfassend, dass Opfer die Täter sogar noch in Schutz nehmen unter Hinweis auf ihre allumfassende Fürsorglichkeit. Sie funktioniert immer dann besonders reibungslos, wenn den Betroffenen Unausweichlichkeit oder Normalität suggeriert werden kann. Das reicht vom Klaps bis zu den alles kontrollierenden Vaterfiguren oder Jugendführern, die sich für das Leben der ihnen Anbefohlenen allzuständig machen.

Jeden Totalitätsanspruch erkennen

Es ist so gesehen auch kein Zufall, dass Menschen mit entsprechenden Neigungen gelegentlich Berufe aussuchen, in denen solche Grenzüberschreitungen leicht zu inszenieren sind. Jedwede „ganzheitliche“ Pädagogik, die das ganze Kinderleben vereinnahmen will, bietet sich dafür an. Das wird sich ebenso wenig verhindern lassen wie Familienoberhäupter, die sich ihre Kinder gefügig machen. Das Einzige, was dagegen hilft, ist Grenzen stark und sichtbar machen und Kindern und Jugendlichen dabei zu helfen, Grenzverletzungen abzuwehren. Dazu braucht es vor allem eine Pädagogik, die Kinder und Jugendliche als bereits mündige Menschen ernst nimmt, ihnen das Recht des Widerspruchs und der eigenen Grenzziehung von Anfang an zubilligt, und die zugleich jeden Totalitätsanspruch – sei er mit Glauben, Schulleistungen, Sangeskunst, Disziplin, Pädagogik, Liebe oder was auch immer begründet – als das erkennt und bezeichnet, was er immer schon ist: Missbrauch! Es ist eine geradezu abenteuerliche Verdrehung, wenn nun pauschal jener Zeitgeist, der sich vehement gegen die schwarze Pädagogik gestellt hat, beschuldigt wird, für ebendiese schwarze Pädagogik verantwortlich zu sein. Offensichtlich ist der Kampf gegen autoritäre Erziehung und für die sexuelle Befreiung auch missbraucht worden von einigen, die darin eine Chance sahen, unter dem Vorwand der Aufklärung noch mehr psychische und physische Grenzen einzureißen.

Nur hat es unter der vorherigen Autoritätsherrschaft keineswegs weniger Übergriffe gegeben. Das Einzige, was man vielleicht enttäuscht zur Kenntnis nehmen muss, ist, dass Missbrauch eben kein Privileg bestimmter Kreise oder Gruppen ist, sondern sich überall und immer dann breitmachen kann, wenn das Selbstbestimmungsrecht des anderen negiert wird.

Weder die katholische Sittenlehre noch ihr 68er-Widerpart ist also für die Übergriffe ursächlich, sondern der mangelnde Respekt für das Selbstbestimmungsrecht Heranwachsender und die mangelnde Hilfe zur Gegenwehr gegen jene, die sich jedweden moralischen Deckmantels bedienen würden, um ihr Ziel zu erreichen. Öffentlichkeit und Aufklärung aller Vorfälle sind deshalb nur ein erster Schritt. Langfristig wird es darauf ankommen, das Selbstbestimmungsrecht der Heranwachsenden dadurch zu stärken, dass jede Autorität auf ihre jeweilige Schutzfunktion beschränkt und daran gehindert wird, mehr vom anderen verlangen zu dürfen, als für die Betroffenen selbst einsehbar und zumutbar ist. Das war übrigens genau das, was die Mehrheit der 68er-Pädagogik sich selbst zum Ziel gesetzt hatte, und was keineswegs im Widerspruch steht zu den Lehren desjenigen, der die Kinder zu sich kommen ließ, um sie mit Gott für die Welt zu stärken.

Univ.-Prof. Dr. Stefan Thomas Hopmann lehrt am Institut für Bildungswissenschaft der

Universität Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2010)

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