Before the flood

Anmerkungen zum neuen Atheismus.

Ohne Religion, so die neuen Atheisten von Richard Dawkins über Christopher Hitchens bis zu Daniel Dennett, wäre das Leben leichter und die Welt ein besserer Ort. Davon waren schon Marx und Engels, die Religion für „Opium des Volkes“ hielten, ebenso überzeugt wie John Lennon in seinem Lied „Imagine“: „Imagine, there's no heaven (...) above us only sky (...) nothing to kill or die for, and no religion too.“ Bis ihn dann ein paranoider Fan ermordete.

Wäre die Welt ohne den monotheistischen Gott der Bibel tatsächliche ein besserer Ort, und wären wir ohne ihn bessere Menschen, weil Religion nur eine Quelle von Gewalt und Obskurantismus ist? Die neuen Atheisten machen es sich mit dem Gott der Christen und der Juden zu leicht; manche Gläubige und Theologen allerdings auch.

1995 erschien das Buch „Gott. Eine Biografie“. Darin liest Jack Miles, ein renommierter Literaturwissenschaftler, ehemaliger Jesuit und heute Anglikaner, die Hebräische Bibel – den Tanach – als Entwicklungsroman eines Gottes, der sich anfangs selbst ein Rätsel ist und sich zu einem höchst komplexen Charakter entwickelt.

Die Endgestalt des Tanach ist freilich ein Produkt des Mittelalters, während die ersten Christen die Septuaginta, also die griechische Version der antiken jüdischen Bibel, als ersten Teil ihres Kanons gelesen haben. Sie haben also keineswegs die jüdische Bibel umgemodelt, sondern es gibt von dieser mehrere Versionen. Und da die ersten Christen Juden waren, ist auch die von Friedrich Nietzsche stammende These von der „Enteignung“ des Alten Testaments durch die Christen historisch falsch.

Zurück zu Miles: Er sieht in dem widersprüchlichen Charakter des biblischen Gottes einen Schlüssel zum Verständnis der westlichen Kultur und ihres Menschenbildes. „Ungereimtheit und innerer Konflikt“, so Miles, „sind in der abendländischen Kultur nicht nur zugelassen, sie werden geradezu gefordert.“ Der biblische Gott ist weder bloße Einheit noch bloße Vielfalt, sondern beides, und das spiegelt sich auch noch nach dem vermeintlichen Tod Gottes in säkularen Konzeptionen moderner Subjektivität.

Dieser Gott ist allerdings kein „lieber Gott“, wie ihn uns gefällige, aber infantile Spielarten heutiger kirchlicher Verkündigung weismachen wollen. Auch wenn im Neuen Testament behauptet wird, das Wesen Gottes sei Liebe, so steht diese Liebe doch in Spannung zu seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn. Und man muss mit Niklas Luhmann fragen, ob das eine überhaupt Sinn ohne das andere hat. Gott ist, mit Schelling gesprochen, nicht nur Grund, sondern auch Ungrund, rätselhaft und abgründig. Dass er sich letztendlich zur Liebe bestimmt, ist ein Glaube, der durch gegenteilige Erfahrungen angefochten bleibt. Man denke nur an die Gestalt des Hiob.

Rund 250 Flutgeschichten

Abgründig ist auch die Sintfluterzählung. Für Dawkins beweist sie nur, wie unmoralisch und grausam der alttestamentliche Gott ist. Allerdings zeigt die Sintflutgeschichte den Schöpfer als Zerstörer. Sein Ziel ist freilich die Zerstörung menschlicher Zerstörungskraft, wie das Verbot des Blutvergießens am Ende der Geschichte (Genesis9,6) deutlich macht. Und auch diese Pointe hat die Erzählung: Obwohl die Menschen seinen Willen missachten und weiterhin Gewalt üben, hält Gott mit seinem Zerstörungswerk inne. Er fällt sich gewissermaßen selbst in den Arm.

Claus Westermann, einer der renommiertesten Alttestamentler des 20.Jahrhunderts, erklärt in seinem großen Genesiskommentar: „Die Sintflut ist der Archetyp der Menschheitskatastrophe, als solche zur Erzählung gedichtet. Was in der Fluterzählung ausgedrückt werden soll, ist das Herkommen aus der Bewahrung des einen aus dem Untergang aller anderen.“ Und: „Das Sein der Welt ist hier als das Bestehende, von einer zum Stehen gekommenen Katastrophe her, verstanden; die bestehende Welt ist die bewahrte Welt.“ Es gibt in der Religions- und Kulturgeschichte an die 250 Flutgeschichten, welche das Wissen um die Fragilität der bestehenden Welt durchbuchstabieren. Die Angst, die eigentliche Katastrophe vielleicht gar nicht hinter sich, sondern überhaupt noch vor sich zu haben, treibt auch die globalisierte Welt von heute um. 1974 veröffentlichten Bob Dylan und The Band ihr Album „Before The Flood“. So könnte man auch das Lebensgefühl der heutigen Zivilreligion der befürchteten Klimakatastrophe charakterisieren. Ob „Wall-E“, „The Day After Tomorrow“ oder „2012“: Der moderne Kultur- und Literaturbetrieb bietet genügend Exerzitien der Weltangst einschließlich Schuldzuweisungen und Bestrafungsfantasien.

Die Existenz des biblischen Gottes zu bestreiten ist bekanntlich die radikalste Form seiner Rechtfertigung, welche die Neuzeit für das Theodizeeproblem gefunden hat. Mit seinem Tod in der Moderne ist er jeder moralischen Anklage enthoben. Aber die Welt ist dadurch um keinen Deut besser geworden, und der Mensch ebenso wenig.

Hiob wusste wenigstens, mit wem er über sein persönliches Leid und das Sinnwidrige streiten konnte. Der biblische Gott macht es einem wahrlich nicht leicht. Doch auch ohne ihn bleiben uns Erfahrungen des Absurden und Sinnwidrigen nicht erspart. Je mehr Natur und Geschichte der menschlichen, der technischen und wissenschaftlichen Verfügungsgewalt unterworfen werden, desto mehr wachsen auch die Zonen des Kontingenten und Sinnwidrigen, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen.

Man muss Sinnfragen nicht unbedingt religiös beantworten. Doch auch dann bleibt die Ressource Sinn ein kostbares und knappes Gut, das durch den neuen Atheismus keineswegs auf wundersame Weise vermehrt wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2010)

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