„Warum bringen wir die Leute um?“

Heinz Fischer hat die Beneš-Dekrete als schweres Unrecht bezeichnet. Was trieb ihn zu dieser undifferenzierten Äußerung?

Heinz Fischer hat den „Scherben auf“. Der sonst eher übervorsichtige Bundespräsident hat die Beneš-Dekrete in einer Grußbotschaft an die Sudetendeutsche Landsmannschaft in Österreich als „schweres Unrecht“ bezeichnet. Für Jiří Paroubek, den Chef der tschechischen Sozialdemokraten, ein „Exzess, der die tschechisch-österreichischen Beziehungen überflüssig beschädigen kann“. Was trieb Fischer zu dieser ungewöhnlich undifferenzierten Äußerung? Na, Wahlkampf ist!

Wer das Unrecht des Jahres 1945 anspricht, tut gut daran, auch vorausgegangenes Unrecht anzusprechen. Wie wäre es mit 1938, als neben dem faschistischen Italien auch das demokratische Frankreich und Großbritannien den völkerrechtswidrigen Zugriff Hitlers auf das „Sudetenland“ im Vorhinein rechtfertigten und den Untergang der Tschechoslowakei – einer demokratischen Insel im faschistischen Mitteleuropa – vorbereiteten? Oder 1939: die Besetzung des „Protektorats“ beziehungsweise der „Resttschechei“ durch das NS-Regime? Immerhin führte das zu massenhaftem Unrecht und Maßnahmen zur vollständigen „Germanisierung“. 250.000 Opfer aus dem „Protektorat“ sprechen eine ebenso deutliche Sprache wie etliche Nazi-Massaker – das bekannteste in Lidice. Oder gehen wir noch weiter zurück?

Die Realität war anders

Die 150 Beneš-Dekrete sind ein wesentliches Fundament des tschechischen Staates. Auf ihnen gründen sich weitere Rechtsakte bis hin zum heutigen Grenzverlauf der Tschechischen Republik. Maximal fünf Dekrete befassen sich mit der Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen. In ihnen sind ausdrücklich all jene Menschen ausgenommen, die sich im Widerstand für die Tschechoslowakei eingesetzt haben.

Die Realität war allerdings anders. Nicht zuletzt ausgelöst durch die Gräueltaten der SS im Mai 1945, kam es am 5.Mai 1945 zum „Prager Aufstand“ gegen die deutschen Besatzer, zur „wilden Vertreibung“ und zu – so eine deutsch-tschechische Historikerkommission – geschätzten 40.000 getöteten „Deutschen“. Von den Alliierten gebilligt, wurden bis zu drei Millionen vertrieben.

Im Kalten Krieg ließ die offizielle Politik im Westen die revanchistische Politik führender Vertreter der Sudetendeutschen gewähren. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kam man einander dank Politikern wie Václav Havel näher. Wer heute wie Fischer eine derartige Grußbotschaft an die Sudetendeutsche Landsmannschaft verfasst, muss wissen, was er tut. Wenn unser Staatsoberhaupt erklärt, dass die Vereinbarungen bei der Unterzeichnung des Lissabon-Vertrags „auf die Beneš-Dekrete in Wahrheit keine Auswirkung“ haben, provoziert er den tschechischen Nationalismus geradezu.

Mühevoll hat unter anderem der damalige Staatspräsident Václav Havel 1995 eine gegenläufige Entwicklung eingeleitet, Worte des Bedauerns und der kollektiven Scham über die Gräueltaten bei der Vertreibung der Sudetendeutschen gefunden und mehrmals die Aufarbeitung dieser Geschichte angeregt. Der Prager Historiker Jan Kren, einer der beiden Vorsitzenden der deutsch-tschechischen Historikerkommission, hat die veränderten Sichtweisen so auf den Punkt gebracht: „Kein Sudetendeutscher würde heute die Henlein-Partei wählen. Und kein Tscheche würde heute die Vertreibung gutheißen.“

Und nun wieder andere Töne ausgerechnet aus Österreich? Fischer sollte sich an den bedachten Äußerungen einer Frau Coudenhove-Kalergi orientieren. Sie als Vertriebene fragte schon 1998, was „die einst Vertriebenen am dringendsten brauchen“ und gab auch gleich eine Antwort: „Viele wären schon mit der klaren Feststellung zufrieden, dass ihnen Unrecht geschehen ist.“

Muss ausgerechnet unser Bundespräsident den Revanchisten in die Hände spielen, statt den Dialog mit allen Beteiligten zu suchen und so eine gefährliche Zuspitzung in Kauf zu nehmen? Mühsam versuchen unsere grünen Freunde in Brünn und Prag, die Verantwortung für die „wilde Vertreibung“ wahrzunehmen und die zarten Ansätze zur kritischen Aufarbeitung zu unterstützen.

Aufbruch nach gestern

Fischers Grußbotschaft ist da kontraproduktiv – sie ist ein Signal zum Aufbruch nach gestern. Sie schürt das gegenseitige Misstrauen statt wie Coudenhove-Kalergi vertrauensbildend zu wirken.

Und sie ermuntert Revanchisten dazu, erneut das Thema Restitution ins Spiel zu bringen. Wenn's ums Geld geht, hört sich der Spaß ja bekanntlich auf. Vielleicht sollte Fischer wieder einmal den „braven Soldaten Schwejk“ lesen: „Warum bringen sich die Leute um?“, lässt Jaroslav Hašek Schwejk fragen und auch gleich antworten: „Na wegen dem Geld. Natürlich.“ Natürlich!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2010)

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