Abtreibung: Wege aus der Sackgasse

Lebensschutz und Autonomie der Frau: ein Widerspruch? Plädoyer für einen neuen Diskussionsansatz.

Die öffentliche Diskussion über Abtreibung ist in Europa seit 40Jahren ein Dauerbrenner. Die Debatten verlaufen hitzig, gesellschaftliche Kommunikation zu diesem Thema gibt es praktisch keine, sie erstickt in Emotionen. Kann das alles gewesen sein? Dazu ist die Lage zu ernst und der Preis zu hoch. Doch gibt es einen Weg aus der Sackgasse?

Übersehen wird meistens, dass es zwei verschiedene Ebenen gibt, auf denen zu diesem Thema argumentiert wird: die individuell-moralische und die politische. Diese beiden Ebenen des Diskurses zu verwechseln oder zu vermischen bedeutet den Todesstoß für jede Kommunikation. Deshalb braucht es – insbesondere im öffentlichen Diskurs – bei höchst kontroversen Fragen eine umfassende und umsichtige Annäherung der Positionen. Der Dialog muss auf der Basis von gemeinsamen Überzeugungen, so klein sie auch sein mögen, aufgebaut werden, als Ausgangspunkt für einen möglichen fortschreitenden Konsens.

Nun stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Überzeugung von Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern? Wo kann ein gesellschaftlicher Diskurs über die Zulässigkeit der Abtreibung ansetzen?

Vernachlässigte These

Abtreibungsbefürworter argumentieren im Rückgriff auf zwei Thesen: 1. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau darf nicht angetastet werden. 2. Was im Uterus der schwangeren Frau entsteht, kann sich zwar später zum Menschen entwickeln, kann aber als Embryo in keiner Weise jene Schutzwürdigkeit beanspruchen, die einem Geborenen zukommt.

Der Streitpunkt der rund ein halbes Jahrhundert andauernden öffentlichen Debatte liegt in der zweiten These. Dass das ungeborene Kind alle Menschenrechte besitzt, allem voran das unbedingte Recht auf Leben – darüber gibt es keine Verständigungsmöglichkeit. Weder biologische noch philosophische Argumente werden zur Kenntnis genommen, hier steckt die Debatte in der Sackgasse. Potenzial für eine Wende liegt aber sehr wohl in der ersten, bis jetzt völlig vernachlässigten These: dem Selbstbestimmungsrecht der Frau.

Welche Maßnahmen müssen gesetzt werden, damit jemand in einer Krisensituation wie einer ungewollten Schwangerschaft eine autonome Entscheidung treffen kann? Das ist die Frage, über die in erster Linie debattiert werden sollte. Selbstbestimmung setzt als rationale Fähigkeit des Menschen eine gründliche Prüfung von Zielen und Mitteln voraus. Eine kompetente und ins persönliche Lebensumfeld der Betroffenen emotional gut integrierte Beratung ist unumgänglich.

Eine Frau, die an eine Abtreibung denkt, steht vor einer schwierigen Entscheidung. Sie befindet sich meistens subjektiv in einer Notsituation und steht unter einem starken emotionalen Schock. Sie bedauert, was zu dieser Situation geführt hat und dass sie es nicht verhindern konnte oder wollte. Man kann also im Allgemeinen davon ausgehen, dass eine Abtreibung eine Maßnahme ist, die nicht leichtfertig gewählt wird, weil sie prinzipiell nicht eine Lösung erster Wahl, sondern immer nur eine Lösung zweiter Wahl ist, auf die zurückgegriffen wird, wenn sonst nichts mehr hilft.

Es wäre daher im Sinne einer Unterstützung der Selbstbestimmung der Frau, Leistungen anzubieten, die ihr eine Entscheidung zweiter Wahl, die sie eigentlich nicht will, erspart. Wer die Autonomie der Frau ernst nimmt, sollte alles unternehmen, Elemente von Fremdbestimmung – wie Druck von außen, finanzielle Notlage, Alleingelassenwerden –, zu eliminieren, damit die Frau nicht zur Lösung zweiter Wahl, der Abtreibung, greifen muss.

Schon vor Jahren war ein solcher Konsens in unserer Gesellschaft vorhanden. Am 29. November 1973 sagte der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) im Parlament: „Man muss alles tun, um im Bereich der Politik diesen ganzen Paragrafen so obsolet zu machen, wie dies mit den Mitteln der Politik, der Psychologie und auch der Moral nur geht, um die Frau zu veranlassen, dass sie dann, wenn sie empfangen hat, das Kind behält.“

Für den Konsens spricht auch das Faktum, dass damals zeitgleich mit dem Fristenlösungsgesetz 1973 ein Entschließungsantrag mit flankierenden Maßnahmen mit Stimmen von SPÖ und ÖVP beschlossen wurde: Von der Regierung wurden als flankierende Maßnahmen zur Fristenlösung „die verstärkte Aufklärung über Empfängnisverhütung, der Ausbau von Familienberatungsstellen, die Erleichterung von Adoptionsmöglichkeiten, die Erhöhung der (inzwischen abgeschafften) Geburtenhilfe, die Erhöhung des Karenzgeldes, der Ausbau der Kindergärten und die Schaffung von modernen Sozialhilfegesetzen“ gefordert. Leider wurden dann die geforderten Maßnahmen wegen der Emotionalisierung des Themas und der Verhärtung der Fronten nicht umgesetzt. Kreisky ging 1974 sogar viel weiter, als er behauptete, dass nur „sehr arme oder sehr ungebildete Gesellschaften“ Abtreibung als Mittel der Geburtenkontrolle einsetzten. Österreich sei „weder arm noch ungebildet, Gott sei Dank“.

Zwang zur Inhumanität?

Die US-Feministin Naomi Wolf, Sprachrohr der „dritten Welle“ der Frauenbewegung, schrieb vor wenigen Monaten in der „Presse am Sonntag“: „Der Feminismus muss als gescheitert angesehen werden, wenn die Töchtergeneration noch zu diesem Mittel zu greifen hat, das alle Beteiligten zur Inhumanität zwingt.“ Der Konsens ist da: Es ist ein politischer Auftrag an die Gesellschaft, alle jene Maßnahmen zu treffen, die es jeder betroffenen Frau ermöglichen würden, auf eine Handlung zweiter Wahl (Abtreibung) nicht zurückgreifen zu müssen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2010)

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