Was ist Wahrheit?

Wie sieht die Wahrheit etwa bezüglich des Umgangs mit klerikalen Missbrauchstätern aus?

Die seit 1.Juli geltende Rahmenordnung der katholischen Bischöfe Österreichs gegen Missbrauch und Gewalt ist mit einem Jesuswort aus dem Johannesevangelium überschrieben: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Die kirchliche Wahrheit bezüglich sexuellen Missbrauchs ist jedoch nicht in allem und nicht überall dieselbe, es gibt diesbezüglich beträchtliche regionale Unterschiede. Es erscheint deshalb angebracht, die Frage zu stellen: „Was ist Wahrheit?“ Auch dies ist ein Satz aus dem Johannesevangelium: Er stammt von Pontius Pilatus und genießt in der christlichen Tradition als Ausdruck ungläubiger Skepsis einen schlechten Ruf. Doch ein gutes Stück Skepsis ist gegenüber dem bischöflichen Missbrauchsdokument bei aller grundsätzlichen Anerkennung, die das Schreiben verdient, durchaus angebracht.

„Zero Tolerance“ made in USA

Im Dezember 2002 musste Kardinal Bernhard Law, der Erzbischof von Boston, zurücktreten, weil er die zahlreichen Missbrauchsfälle in seiner Diözese vertuscht und die geistlichen Kinderschänder ganz bewusst wie Figuren auf einem Schachbrett von einer Pfarre in die andere verschoben hatte.

In zahlreichen anderen US-amerikanischen Diözesen herrschten ähnliche Verhältnisse. Nach anfänglichem Zaudern reagierte die US-amerikanische Bischofskonferenz auf das fatale Ineinander von sexueller Gewalt, bischöflicher Vertuschung, psychiatrischen Fehldiagnosen und der in manchen Pfarrgemeinden zu findender Sympathie für die klerikalen Täter, die häufig beliebte Priester waren, mit einer grundsätzlichen und eindeutigen Bestimmung.

Seit 2002 ist gegenüber Geistlichen, die nachgewiesenermaßen Kinder oder Jugendliche sexuell missbraucht haben, eine sogenannte „Zero Tolerance Policy“ in Kraft. In ihrer „Charter for the Protection of Children and Young People“ stellt die US-Bischofskonferenz klar: „Es gilt der Grundsatz, dass die Diözesen dafür Sorge zu tragen haben, dass ein Priester oder Diakon, der nach einem entsprechenden Verfahren in Übereinstimmung mit dem kanonischen Recht auch nur eines einzigen sexuellen Missbrauchs an einem Minderjährigen überführt wurde oder diesen gestanden hat, auf Dauer vom kirchlichen Dienst entfernt und, wenn dies angemessen erscheint, aus dem geistlichen Stand entlassen wird.“ (Meine Hervorhebung.)

Um weiteren Missbrauch zu verhindern und zu seiner eigenen Hilfe solle dem schuldig gewordenen Kleriker die Finanzierung einer Psychotherapie angeboten werden. In einem anderen, „Essential Norms“ genannten bischöflichen Dokument, wird festgestellt: „Es ist dem Täter nicht erlaubt, öffentlich die Messe zu feiern oder die Sakramente zu spenden. Er soll darüber unterrichtet werden, dass es ihm nicht gestattet ist, priesterliche Kleidung zu tragen oder sich öffentlich als Priester zu präsentieren.“ In einem Interview hat Bischof Blase J. Cupich, der Vorsitzende der bischöflichen Kommission zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die US-amerikanische „Zero Tolerance Policy“ vor Kurzem unmissverständlich bekräftigt: „Wenn nachgewiesen ist, dass ein Kleriker einen Minderjährigen sexuell missbraucht hat, wird er auf Dauer vom Dienst entfernt, egal wie lange das Verbrechen zurückliegt.“ Als minderjährig gelten alle Menschen vor Erreichung ihres 18. Lebensjahres.

In einem Interview mit der katholischen Wochenzeitung „Die Furche“ hat Peter Isely, der Gründer einer US-amerikanischen Netzwerkes von kirchlichen Missbrauchsopfern, vor Kurzem berichtet, er habe Kardinal Christoph Schönborn in einem persönlichen Gespräch dringend ersucht, eine solche „Null-Toleranz-Regelung“ auch in Österreich einzuführen.

Die Vollversammlung der österreichischen Bischofskonferenz in Mariazell ist der Bitte Iselys leider nicht gefolgt. In der katholischen Kirche Österreichs geht man mit klerikalen sexuellen Straftätern vergleichsweise nachsichtig um. Die Rahmenordnung der Bischöfe erklärt zwar, dass „pädophile Missbrauchstäter ... keineswegs weiter in der Pastoral eingesetzt (werden), wo der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen gegeben ist“. Einsätze in anderen Bereichen seien aber grundsätzlich möglich. Die konkreten Maßnahmen gegen einen Missbrauchstäter seien vom jeweiligen Diözesanbischof nach Anhörung einer zuständigen Kommission anzuordnen.

Das bischöfliche Dokument erläutert nicht, was unter „Pädophilie“ genau zu verstehen ist. Es wird auch nicht klar, ob implizit zwischen Pädophilie (sexuelles Interesse an Kindern) und Ephebophilie (sexuelles Interesse an Jugendlichen) unterschieden oder ein (weiter) Pädophiliebegriff verwendet wird, der beides umfasst.

Fragen über Fragen

Ist ein Kleriker, der z.B. einen Jugendlichen kurz nach dessen 16. Geburtstag sexuell missbraucht, ein pädophiler Missbrauchstäter? Oder ist er keiner, weil das gesetzliche Schutzalter für Burschen (und Mädchen) in Österreich seit 2002 bei 14 Jahren liegt (vorher lag es für Burschen bei 18 Jahren)? Besteht aber zwischen einem Priester und einem Jugendlichen, egal welchen Alters, in der Regel nicht ohnehin ein grundsätzliches Autoritäts- oder Abhängigkeitsverhältnis, das jeden sexuellen Kontakt verbietet? Und besonders wichtig: Genügt den Bischöfen zufolge eine einzige Tat des Missbrauchs oder muss es sich um einen Wiederholungstäter handeln, um jemanden als „pädophilen Missbrauchstäter“ zu charakterisieren? Die Zahl der Fragen, die die vermeintlichen bischöflichen Klarstellungen provozieren, ist mindestens ebenso groß wie jene der Antworten, die gegeben werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2010)

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