Weltwirtschaftskrise als Vertrauenskrise

Am Beispiel Rumänien: Der Unterschied zwischen der großen Wirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts und der heutigen ist der totale Verlust des gegenseitigen Vertrauens unter den Menschen.

Dieser Tage erzählte mir ein rumänischer Freund eine Geschichte aus seiner Kindheit, an die er sich anlässlich der aktuellen Finanzkrise erinnerte: Während der Weltwirtschaftskrise von 1931 bis 1933 forderte man von den Intellektuellen seines Heimatdorfes in den Südkarpaten, den orthodoxen Priestern und den Lehrern, zu denen auch seine Eltern zählten, dass sie für sechs Monate freiwillig auf ihren Lohn verzichten mögen. Zuwendungen wie Gemüse, Obst, Hühnerfleisch u.a. erhielten sie von den Bauern des Dorfes. Die Eltern meines Freundes erzählten später stets mit großem Stolz von diesem Verzicht, den sie gern und aus dem patriotischen Gedanken heraus, etwas Gutes für ihr Land in schweren Zeiten zu tun, vollbracht hatten.

Wenn wir diese Geschichte jedoch in den Rahmen der heutigen Wirtschaftskrisensituation in unserem Land stellen, so ist es fast unvorstellbar (außer man lässt sich als Trottel abstempeln oder gibt sich der Lächerlichkeit preis), dass ein Arbeitnehmer für ein halbes Jahr auf sein Gehalt verzichtet, um der Regierung zu helfen, aus der finanziellen Talsohle herauszukommen. Und sollte solch ein Freiwilliger – was fast absurd erscheint – doch noch gefunden werden, so wäre diese Hingabe als Bürgerpflicht für den Staat nicht zu rechtfertigen, wenn man bedenkt, was die Regierung mit dem ersparten Geld anfangen könne.

Der einzige Unterschied zwischen der großen Wirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts und der heutigen, die sich im Wesen kaum voneinander unterscheiden, und lediglich durch Krieg, Fremdbesetzung und die Revolution von 1989 getrennt sind, ist der totale Verlust des gegenseitigen Vertrauens unter den Menschen. Diese Weltwirtschaftskrise hat in Rumänien die Form einer Vertrauenskrise angenommen, welche unendlich schwieriger zu bewältigen ist. Allen Niederlagen, die wir erleiden, liegt dieser Vertrauensverlust zugrunde.

Die Erwartung, stets betrogen zu werden

Francis Fukuyama spricht von einer direkten Verbindung zwischen dem Grad des Vertrauens in einer Gesellschaft und dem wachsenden Wohlstand. Soziabilität ist für Fukuyama gleichbedeutend mit „Vertrauen“ innerhalb einer Gesellschaft. Wo kein Vertrauen ist, gibt es auch kein Wachstum. Bei uns herrscht die Überzeugung, dass alle anderen uns betrögen und jeder seinerseits sich nur durch Betrug wehren könne; und diese ist nicht nur Grundlage allen Bösen, sondern auch Grundlage der Armut. Die Erwartung, stets betrogen zu werden, ist deswegen noch zerstörerischer als der Betrug selbst wegen der sozialen Folgen und der Blockade eines Dialogs zwischen den verschiedenen Partnern in der Gesellschaft.

Gewiss ist ein psychologisches Phänomen dieser Art nicht von heute oder gestern. Ich weiß jedoch nicht, ob diese Eigenschaft unseres Volkes eine angeborene (genetische) ist; sie hat auf alle Fälle aber einen historischen Hintergrund: Die Tatsache, dass im Rumänischen die Bezeichnung „tölpelhaft einfältig sein“ („a fi fraier“, das von dem deutschen Wort Freiherr stammt) unendlich infamer und entehrender ist als das „hinterlistig schlau sein“ („a fi smecher“ – auch aus dem Deutschen Feinschmecker hergeleitet) oder gar „Dieb sein“ oder „es faustdick hinter den Ohren haben“ (im Rumänischen heißt es „a fi 'ot“) spricht unbarmherzig gegen uns.

So betrachtet waren wohl die Eltern meines Freundes, die stolz auf ihr erbrachtes Opfer waren, ein paar bizarre und naive Ausnahmen. Oder strebten sie gegebenenfalls vor dem historischen Hintergrund von 1918, als das kollektive Bewusstsein sich in Rumänien neu herausbildete, eine Erfüllung ihrer Ideale an? Das Vertrauen, das sich jedenfalls nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zwischen dem rumänischen Staat und seinen Bürgern aufgebaut hatte, stärkte das kollektive Bewusstsein, das jedoch in den folgenden Jahrzehnten ohne Mitleid wieder vernichtet wurde. Leider war 1989 hier kein Neuanfang wie damals 1918. Alle Illusionen wurden rasch zerstört. Somit ist keine Soziabilität, kein noch so minimaler Sozialpakt mehr möglich, da er gegenseitiges Vertrauen voraussetzt. Was jedoch ist ein Rechtsstaat ohne Sozialpakt?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2010)

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