Unvollendete Wiedervereinigung

Zum 20.Jahrestag: Ein einig Volk und Vaterland haben die Deutschen noch immer nicht.

Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Seit 1949 stand es so in der Präambel des Grundgesetzes, aber eigentlich hielten die meisten (West-)Deutschen dies für eine anachronistische Politprosa – bis sich in den Jahren 1989/90 die Entwicklungen überschlugen: Fall der Mauer November 1989, die ersten freien Wahlen in der DDR März 1990, Verhandlungen mit den Alliierten, die sogenannten Zwei-plus-Vier-Gespräche im Mai. Und schließlich war es geschafft: Am 3.Oktober 1990 ging für mich ein Traum in Erfüllung, die Einheit und Freiheit Deutschlands waren vollendet. Wir „Realitätsverweigerer“, wir „Reaktionäre“, und wie all die billigen Diffamierungen lauteten, wir wurden von der Geschichte in wunderbarer Weise bestätigt.

Was heute wie ein Selbstläufer klingt, war damals höchst umstritten. Die englische Regierungschefin torpedierte, wo es nur ging, der französische Staatspräsident gab seinem Unmut Ausdruck, im eigenen Lande warnten die Grünen vor der „Wiedergeburt eines deutschen Nationalstaates“, die SPD wollte sich auf die Suche nach einem „dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus“ machen und sprach von einer „überflüssigen, in die Sackgasse führenden Wiedervereinigungsdiskussion“, und sogar Bundespräsident von Weizsäcker warnte vor dem „Zusammenwuchern“ der beiden Teile Deutschlands, eine infame Version des Satzes von Willy Brandt, „jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“.

Es scheint eine Eigenart der Deutschen zu sein, nationale Interessen in die Hände anderer zu legen. In diesem Fall waren es die Staatschefs der UdSSR und der USA, Gorbatschow und Bush sen., die letztendlich die Wiedervereinigung ermöglichten. Freilich darf dabei auch die Leistung von Helmut Kohl nicht unterschätzt werden, der mit einem geradezu genialen Geschick die unterschiedlichen Interessen auf einen Nenner brachte und alle Widerstände geschickt ins Leere laufen ließ. Er, der von den Intellektuellen (bzw. denjenigen, die sich dafür halten) immer verspottet wurde, er hatte erkannt, dass es sich um eine Zäsur der Weltgeschichte handelte, die Europa ein anderes Gesicht geben würde.

Untergegangen ist damals (und bis heute), dass die Zwei-plus-Vier-Gespräche mit einem Vertrag beendet wurden, der Deutschland die volle Souveränität zurückgab. Im Artikel7 bestätigen die Außenminister von Frankreich, England, den USA und der UdSSR, dass „hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“ enden. Und außerdem heißt es: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“ 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war dieser damit für Deutschland auch formal beendet.

Alles in Ordnung? Keineswegs

Alles in Ordnung also? Keineswegs, was da (nach Brandt) zusammengehört, ist längst noch nicht vereint. Auch wenn das oft nur spöttisch zitierte Wort von Helmut Kohl von den „blühenden Landschaften“ wohl ein wenig zu optimistisch war, heute, nach 20 Jahren, sind diese blühenden Landschaften Wirklichkeit. Aber die sozialen Unterschiede, die Wirtschaftskraft, die Löhne und Renten, ja auch die Empfindungen zeigen noch immer Unterschiede zwischen Ost und West. Obwohl der „Aufbau Ost“ Milliardensummen verschlungen hat, ist die Arbeitslosigkeit in den Neuen Ländern noch immer wesentlich höher als im Westen, ist der Lebensstandard niedriger, die Unzufriedenheit flächendeckend. Kein Wunder denn auch, wenn Umfragen im Osten eine Nostalgie zum kommunistischen DDR-System zu bestätigen scheinen.

Wahlen bestätigen dies in erschreckender Weise: die Ewiggestrigen von SED/PDS/Linke erreichen regelmäßig 20 bis 27Prozent der Stimmen. Eine neuere Umfrage bestätigt: 20 Jahre nach der Wiedervereinigung fühlt sich fast jeder vierte Ostdeutsche als Wendeverlierer. Einer Studie zufolge sehen viele pessimistisch in die Zukunft. Zehn Prozent der Befragten wollen sogar die DDR wieder haben, bei den Arbeitslosen sind es sogar 26Prozent. Wohlgemerkt: Wir reden über eine brutale Diktatur, die den Menschen geistig deformierte, die am Ende für jedermann sichtbar bankrott war und nur noch Ruinen hinterlassen hat.

Auferstanden aus Ruinen, und der Zukunft zugewandt – hieß es in der DDR-Hymne. Die Ruinen sind nach der Wiedervereinigung beseitigt, an der Zukunft ist zu arbeiten. Vielleicht haben die Westdeutschen den Ossis wirklich oft genug das Gefühl vermittelt, man erkenne ihre Lebensleistung nicht an, und natürlich gab es da auch westdeutsche Schurken, die die Naivität der Menschen in Sachen „Kapitalismus“ schamlos ausgenützt haben. Doch das ist nun vorbei, nun steht statt Ost gegen West das Wort Einheit auf dem Programm.

Und da hat auch der Westen zu lernen: In ganz Deutschland ist man auf einer gefährlichen Rutschbahn von der Politikverdrossenheit über die Politikerverdrossenheit hin zu einer Demokratieverdrossenheit. Dem biederen Mief der SED müssten die demokratischen Parteien eine Stimmung entgegensetzen, die dem Wähler Zukunftsoptimismus vermittelt. Zum 20.Jahrestag der Wiedervereinigung wird davon wohl viel zu hören sein, ob diese Aufgabe bewältigt wurde, werden wir wohl erst in 20 Jahren wissen. Im Augenblick sieht es jedenfalls so aus, als würde die Präambel des Grundgesetzes nach wie vor Gültigkeit haben: Noch immer sind wir Deutschen aufgefordert, die Einheit wirklich zu vollenden!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2010)

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