Die missbrauchte Briefwahl: Unappetitlich und unerträglich

Gastkommentar. Eine umfassende Reform des Briefwahlrechts ist eine Frage der demokratiepolitischen Hygiene und Glaubwürdigkeit.

Das Briefwahlrecht des Bundes und einiger Bundesländer ermöglicht – wie die Erfahrung gezeigt hat – „taktisches Wählen“ nach Abschluss der Stimmabgabe. Da gibt es erste Hochrechnungen, und am Abend eines Wahltags wird regelmäßig ein „vorläufiges Endergebnis“ verkündet – ein Unfug, wenn man an die große Zahl von Stimmen denkt, die aufgrund von Wahlkarten erst nach diesem sogenannten „vorläufigen Endergebnis“ bei den Wahlbehörden einlangen und (sofern die gesetzlich vorgesehene Nachfrist nicht überschritten ist) gezählt werden.

Das Wahlrecht verlangt, dass alle Stimmen berücksichtigt werden, die bis zu einem gesetzlich bestimmten Stichtag bei den Wahlbehörden einlangen. Liegt dieser Stichtag – wie nach fast allen Wahlordnungen in Österreich – nach der Verlautbarung des „vorläufigen Endergebnisses“, so ermöglicht das, in Kenntnis des Trends, ja sogar des „vorläufigen Endergebnisses“ zu wählen. Es erlaubt es nicht, aber es ermöglicht es – im Bund und in einigen Ländern eine ganze Woche lang.

„Auf jede Stimme kommt es an“

Sehenden Auges tolerieren wir Rechtswidrigkeiten und kokettieren mit ihnen sogar in Werbeeinschaltungen. Unappetitlich und demokratiepolitisch unerträglich.

Der Argumentation, dass es sich um quantitativ nicht ins Gewicht fallende Erscheinungen handele, sind die wachsende Zahl von Wahlkartenwählern mittels Briefes und das in letzter Zeit zu beobachtende Phänomen entgegenzuhalten, dass es häufiger sehr knappe Wahlentscheidungen gibt und es mitunter wirklich „auf jede Stimme ankommt“.

Ein zweites Ärgernis sind die überaus großzügigen Regeln über die Möglichkeit, Wahlkarten zu erhalten; diese sind ja Voraussetzung für die Stimmabgabe per Brief.

Die geltenden Regeln über die Ausgabe von Wahlkarten sind demokratiepolitisch höchst problematisch und – auch das hat die Erfahrung leider gelehrt – missbrauchsanfällig. Diese Bestimmungen müssten jedenfalls so umgestaltet werden, dass sie dem Grundsatz des persönlichen Wahlrechts entsprechen. Denn dieser Grundsatz hat natürlich im Fall der Briefwahl Vorwirkungen auf die Erlangung der Wahlmöglichkeit.

Die Wahlgesetze dürfen schon von Verfassung wegen diesen Grundsatz weder beseitigen noch in unverhältnismäßigem Ausmaß einschränken. Die Ausgabe von Wahlkarten ohne einen persönlichen oder zumindest eigenhändig unterschriebenen Antrag mit behördlicher Identitätskontrolle ist wohl verfassungswidrig.

Nur oberflächliche Korrekturen?

Derzeit wird – erfreulicherweise – eine Korrektur des Briefwahlrechts diskutiert. Diese Diskussion sollte aber nicht an der Oberfläche bleiben. Es sollte das Briefwahlrecht insgesamt überdacht werden – und zwar auch vom Grundsätzlichen her.

Wir wissen, dass die Briefwahl in einem – gelinde ausgedrückt – Spannungsverhältnis zu den Prinzipien des persönlichen und des geheimen Wahlrechts steht. Es ist missbrauchsanfällig, nicht nur, was die Erlangung der Wahlmöglichkeit durch großzügige Wahlkartenausgabe betrifft und was die de facto bestehende Möglichkeit des Wählens nach Wahlschluss anlangt: Man hört schon wieder vom „offenen Wählen in einer Gruppe“ oder „im Freundeskreis“, von der Diskussion der Alternativen mit anschließendem kollektiven Ausfüllen der Stimmzettel.

Wir müssen etwas tun

Wollen wir es wieder so weit kommen lassen, dass man Stimmen verkauft oder sein Wahlverhalten von irgendwelchen Autoritäten (dem Paterfamilias, dem Führer einer Vereinigung oder dem, von dem man wirtschaftlich abhängig ist) bestimmen lässt?

Es genügt nicht, dass wir die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und „Unerhört!“ oder „Furchtbar!“ rufen – wir müssen etwas tun. Wir haben es hier nicht mit Mentalitätsfragen allein zu tun, sondern mit Folgen eines verunglückten Briefwahlrechts. Die Briefwahl ist missbrauchsanfällig; dass sie auch tatsächlich missbraucht wird, wissen wir erst seit Kurzem. Daher muss sie gezielt reformiert werden.

Nun hat die Briefwahl auch etwas sehr Positives; sie dient zweifellos der Realisierung des Prinzips der Allgemeinheit der Wahl. Das war ja der Grund dafür, dass sich viel seriöse Politiker, deren Demokratiebewusstsein außer Streit steht, dafür eingesetzt haben, sie zu ermöglichen.

Den Anfängen wehren

Es gibt Bevölkerungsgruppen, die ohne diese Möglichkeit de facto nicht wählen können – Auslandsösterreicher insbesondere oder schwer kranke oder behinderte Personen. Ihnen sollte eine Wahlkarten-Briefwahl ermöglicht werden.

Insoweit ist sie „erforderlich“ oder zumindest höchst sinnvoll. Man sollte sie daher zulassen, soweit es solche – objektiv nachprüfbare – Notwendigkeiten gibt, aber nur insoweit. Im darüber hinausgehenden Ausmaß schlagen die Argumente der Gefährdung demokratiepolitisch ganz wichtige Prinzipien des Wahlrechts durch.

Die Grundsätze des persönlichen und geheimen Wahlrechts sind so hohe Güter, dass sie nicht zur Disposition stehen dürfen. Eine Entwicklung des Wahlrechts in die Richtung, dass sich die Menschen frei entscheiden können, ob sie persönlich wählen gehen oder ihre Stimme per Brief (oder per E-Mail) abgeben, wäre gefährlich. Wehren wir den Anfängen.

Missbrauchsresistente Regeln

Aber auch dort, wo die Briefwahl (subsidiär) ermöglicht werden soll, wo sie im oben ausgeführten Sinn sinnvoll und im Interesse der Allgemeinheit der Wahl vielleicht sogar „erforderlich“ ist, um jenen das Wählen zu ermöglichen, die ansonsten de facto nicht am demokratischen Prozess teilnehmen könnten, ist eine möglichst missbrauchsresistente Ausgestaltung erforderlich.

Selbst auf die Gefahr hin, dass die Stimmabgabe per Brief einen bestimmten Aufwand erfordert – es müssen Formvorschriften gefunden werden, die den Missbrauch hintanzuhalten geeignet sind.

Eine solche umfassende Reform des Briefwahlrechts ist eine Forderung der demokratiepolitischen Hygiene und der Glaubwürdigkeit unserer Demokratie.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Karl Korinek (*7.12.1940 in Wien) lehrte Staatsrecht an den Universitäten Graz, Salzburg, Wien sowie an der Wirtschaftsuniversität Wien und war über 30 Jahre hindurch Richter.

Seit 1978 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, amtierte Univ.-Prof. Dr. Dr. hc. mult. Korinek von 2003 bis 2008 als Präsident dieses Gerichtshofs. Er ist Vorsitzender des „Forums Verfassung“. [Clemens Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2010)

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