Mit der Türkei, Ukraine, Russland auf dem Weg zu einer neuen EWG

Plädoyer für die Bildung einer „Europa 10“-Gruppe, die 750 Millionen Europäer vereinigen würde. Gibt Nicolas Sarkozy den Anstoß?

Die Spitzenpolitiker der großen europäischen Länder müssen ihre Vision eines größeren Europa, das über eine erweiterte EU hinausgeht, neu beleben. Im Rahmen der G20, deren Vorsitz der französische Präsident seit dem 12. November innehat, hätte Nicolas Sarkozy die Gelegenheit, wichtige geopolitische Initiativen zu starten. Sarkozys Treffen mit Angela Merkel und Dmitrij Medwedjew in Deauville am 19.Oktober rief dabei den Wert der europäisch-russischen Kooperation, die über Sicherheitsfragen hinausgeht, wieder in Erinnerung.

Etwa 250 Millionen Menschen leben in der Türkei und den ehemaligen sowjetischen Republiken. Zusammen mit den 500 Millionen Bürgern der Europäischen Union ist dies ein Raum von 750 Millionen Bürgern, die durch Geografie, Geschichte und ihre Hoffnungen auf Demokratie miteinander verbunden sind, ebenso durch den Wettbewerb mit den aufsteigenden Staaten Asiens und der Bedrohung durch den Terrorismus. Ihre Wirtschaften weisen teilweise ein starkes Wachstum auf, tragen zu Europas Exporten und Europas Wohlstand bei. Eine klare Aussicht auf ihre europäische Integration würde ihr Vertrauen stärken, uns die Investitionen erleichtern und helfen, die Krise zu überwinden.

Orientierung nach Osten

Aber sowohl die Türkei wie die Ukraine sind aufgrund der Vernachlässigung durch den Westen gefährdet, sich dem Osten zuzuwenden: die Türkei dem ehemaligen Ottomanischen Reich und die Ukraine der Russischen Föderation. Russland, derzeit in relativem Niedergang begriffen und unter Druck von China, entdeckt derzeit seine paneuropäische Berufung wieder. Moskau laviert zwischen dem Gedanken an eine neosowjetische Zollunion und einer paneuropäischen Strategie.

Natürlich könnten sich die zwei großen slawischen Staaten auch der EU annähern. 2011 unter dem polnischen EU-Ratsvorsitz wird die EU sich sicherlich mehr um die Ukraine kümmern und ihr hoffentlich eine „europäische Perspektive“ anbieten. 2012 könnte ein neu gewählter russischer Präsident den postimperialistischen Nationalismus zugunsten eines Europa-Realismus aufgeben.

Russland möchte in Fragen der Sicherheit und der Modernisierung mit der EU zusammenarbeiten, ohne seine Souveränität aufzugeben. Lasst uns diese ausgestreckte Hand auf westlicher Seite annehmen, ohne die Nato oder die EU zu erweitern, sondern indem wir Russland einen „europäischen Horizont“ eröffnen.

Was die institutionelle Seite der EU-Erweiterung angeht, wird diese Dynamik in einigen Jahren völlig ins Stocken kommen. Der derzeitige Ansatz wird mit nordischen Ländern und Balkanstaaten beendet sein. Es werden zu viele Minister um den Tisch herumsitzen, es wird zu viele Gesetze zu besprechen geben und zu viele Umbrüche, wenn bevölkerungsstarke Länder wie die Türkei der EU beitreten. Deswegen ziehen sich die Verhandlungen mit der Türkei auch so hin. Auf jeden Fall sollten sie aber weitergehen, das Ergebnis sollte offenbleiben.

Die „privilegierte Partnerschaft“, die Paris als Alternative zum Beitritt vorschlägt, ist inhaltsleer. Die Türkei hat auch kein Vertrauen in die Mittelmeerunion, die sie als Sackgasse ansieht. Statt einer langjährigen Verlobung würde die stolze Türkei lieber entweder die Beziehung auflösen oder ein Datum für die Hochzeit setzen.

Um das Beste aus der jetzigen verbockten Situation zu machen, muss eine paneuropäische Vision in die Diskussion gebracht werden. Nur ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ hat das Potenzial, die Hoffnungen der Menschen im Osten zu erfüllen und gleichzeitig die Ängste der Menschen im Westen zu beschwichtigen.

Zuerst kommt die Wirtschaft

Dieses Europa sollte aus drei konzentrischen Kreisen bestehen. Der innere Kreis, die Eurozone, hat heute 16 Mitglieder; der politische Kreis ist die EU mit heute 27 und bald noch mehr Mitgliedstaaten. Der dritte Kreis muss noch definiert werden.

Den Gründervätern der EU, Robert Schuman und Jean Monnet, zufolge schreitet die Integration in kleinen Schritten voran und beginnt mit der Wirtschaft. Für die Türkei, die Ukraine und Russland würde dies die Teilnahme an einem paneuropäischen Markt mit 750 Millionen Bürgern bedeuten. Nicht nur eine Zollunion, die mit der Türkei bereits besteht, sondern auch Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Letztlich hieße dies alles – außer Euro, Außenpolitik und Verteidigung.

Nennen wir diesen großen Markt die neue Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Das Versprechen, das die ehemalige EWG der Türkei 1963 gemacht hatte, wäre damit endlich erfüllt. Um uns auf die Umsetzung zu konzentrieren und es der Brüsseler Agenda „Europa 2020“ gleichzutun, sprechen wir von der „EWG 2020“.

Visionen einer EU „von Lissabon bis Wladiwostok“ gibt es bereits. Fehlt es ihnen einfach an Lesbarkeit?

Wer sind die „Europa 10“?

Trotz ihrer weltweiten Reichweite könnten die G20 hier die Führung übernehmen, da die Türkei und Russland dort schon Mitglieder sind. Ein Gipfel der europäischen Mitglieder noch vor dem G20-Treffen könnte gleichsam der Startschuss für eine Umsetzung der Vision sein.

Ein solcher „Europa 10“-Gipfel wäre informell, aber doch sichtbar. Noch bevor andere Institutionen und Organe Einfluss nehmen, könnten europäische Spitzenpolitiker den paneuropäischen Markt in einem globalen Zusammenhang besprechen. Der Europäische Rat und das Europäische Parlament würden die legislativen Organe bleiben, und die Brüsseler Kommission wäre die tatsächliche Hüterin des paneuropäischen Marktes.

Wer wären die Mitglieder dieser „E 10“? Zu allererst, da sie 70 Prozent der EU-Bevölkerung stellen, die „Großen Sechs“: Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Spanien und Großbritannien. Dann die Europäische Union selbst, die die Stimmen der anderen 21 Mitgliedstaaten vertritt. Die nächsten zwei wären die Ukraine und die Türkei und letztlich Russland, sobald es dazu bereit ist.

Sarkozys Chance

Der französische Vorsitzende der G20 wird bis Jahresende in Ankara erwartet, er kann nicht mit leeren Händen kommen. Unter der französischen Ratspräsidentschaft der EU, inmitten der Finanzkrise, brach Sarkozy bereits mit Traditionen, indem er einen Gipfel der Eurozone einberief. Nichts kann ihn davon abhalten, seine Amtskollegen zu einem „E 10“-Gipfel einzuladen.

Die EWG wurde von einer kleinen Zahl an „Gründervätern“ ins Leben gerufen. Der Europäische Rat begann viel später, mit neun Menschen um einen Kamin herum, bevor er die Verdreifachung der Mitgliedstaaten lenkte. Der Moment ist gekommen, ein größeres Europa wiederzubeleben. Es liegt an unseren Politikern, die Chance zu ergreifen.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Christophe Leclercq (48) ist Gründer und Herausgeber des unabhängigen europapolitischen Nachrichten- und Analyseportals EurActiv.com (Brüssel), das mittlerweile aus zwölf Redaktionen in ganz Europa besteht. Das deutschsprachige Portal in Berlin heißt EurActiv.de und hat einen Österreicher als Chefredakteur. Der Franzose Leclercq ist Autor mehrerer Bücher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2010)

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