Die blockierte Republik: Warum große Reformen bei uns scheitern

Die Regierung ist an der Macht, regiert aber nicht. Bundesländer und Gewerkschaften verhindern jede nachhaltige Strukturreform.

Österreichs Regierung ist an der Macht, regiert aber nicht. Macht ist nach einer häufig gebrauchten Definition die Summe von Mitteln und Fähigkeiten, den eigenen Willen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Davon war bei der Steuerreform nichts zu bemerken.

Wer schon beim geringsten Widerstand in die Knie geht, übt die Macht nicht so aus, wie das im Interesse des Gesamtwohls notwendig wäre. Wenn eine demokratisch legitimierte Führung ihre Macht nicht ausübt, so läuft das nach dem Historiker A. J. Toynbee de facto auf Machtmissbrauch hinaus.

Zwei annähernd gleich starke Parteien sind natürlich keine gute Voraussetzung für das Funktionieren einer Koalition. Bei einer Regierung mit einem großen und einem kleinen Partner stellt sich nie die Frage, wer nach der nächsten Wahl der erste ist. Bei zwei gleich starken Parteien steht das permanent im Raum. Argwöhnisch wird daher darauf geachtet, dem anderen auch nicht den kleinsten Vorteil zu gönnen. Das führt zu gegenseitiger Blockade.

Hacklerpension, Studiengebühren, Ganztagsschule, Gesamtschule, Verwaltungsreform, Gesundheitsreform – in allen wichtigen Fragen ist kein Einvernehmen möglich, weil SPÖ oder ÖVP nur ihre Klientel im Auge haben und nicht das Staatswohl. Da, wo die Regierung einig wäre, legen sich die Länder quer, in anderen Fragen die Gewerkschaften. Nichts geht mehr.

Die watschelnde Macht

Für die Republik Österreich gilt dann ein Wort von H. M. Enzensberger: „Auf immer kürzer werdenden Beinen watschelt die Macht in die Zukunft.“

So wie die Dinge derzeit liegen, kann die Angst von SPÖ und ÖVP, dass der jeweils andere stärker werden könnte, freilich einen lachenden Dritten hervorbringen: die FPÖ als stärkste Partei nach der nächsten Wahl. Auch eine mutigere Regierung hätte natürlich Mühe, alles Wünschenswerte durchzusetzen, zum Beispiel bei der Verwaltungsreform, wo die Blockade zwischen Bund und Ländern vollkommen ist.

Österreich ist verwaltungstechnisch ja eine Fehlkonstruktion. Die Bundesregierung nimmt das Geld ein, die Länder geben es aus, und zwar ziemlich freigebig. Der Bund hat praktisch keine Handhabe, die Länder einzubremsen. Sonst wäre es nicht möglich, dass Kärnten, das Bundesland mit der höchsten Verschuldung, jedem Landesbürger 150 Euro bar als Sonderzahlung in die Hand drückt.

Auch die großzügigen Pensionsregelungen für Landesbeamte in einigen Bundesländern kann der Bund nicht beeinflussen. Offensichtlich waren die Finanzminister der letzten Jahre bei der Aufteilung der Steuergelder im Finanzausgleich viel zu großzügig zu den Ländern. Dafür spricht auch die üppige Parteienförderung in den Ländern, die insgesamt zu einer der höchsten Parteienförderungen weltweit führt.

Die Bundesregierung braucht in der Regel maximal ein Dutzend Minister zum Regieren Österreichs, die Bundesländer brauchen 77 Landesräte mit einem (Fast-)Ministergehalt zum Verwalten ihrer Länder. Von diesen Landesräten haben einige fast keine Kompetenzen. Als vor Jahren der FPÖ im Burgenland wegen des Proporzsystems ein Landesrat zustand, speisten ihn SPÖ und ÖVP mit den Kompetenzen für das Seilbahnwesen ab – im Burgenland gibt es drei Schlepplifte. Ähnliche Beispiele gibt es auch in anderen Bundesländern.

448 Landtagsabgeordnete werden zu meist nicht mehr als fünf Sitzungen im Jahr einberufen, erfahren dort vom Klubobmann, wo sie zustimmen müssen und widmen sich dann wieder ihrer Parteiarbeit im Bezirk. Sie sind im Wesentlichen von der öffentlichen Hand bezahlte Parteiangestellte. Das Mindeste, was man von den Ländern verlangen kann, wäre eine Reduktion der Zahl der Landesräte und Landtagsabgeordneten.

Führungspersönlichkeiten fehlen

Auf Bundesebene fehlen vor allem glaubhafte Führungspersönlichkeiten. Eingedenk seiner Tätigkeit als Wiener Stadtrat durfte man das von Werner Faymann nicht erwarten. Josef Pröll startete dagegen mit Vorschusslorbeeren, wurde aber in den letzten Wochen ziemlich entzaubert. Onkel Erwin Pröll hat da einen gehörigen Anteil. Der ÖVP-Obmann wurde von den vier ÖVP-Landeshauptleuten in der Frage der Zuständigkeit der Lehrer regelrecht vorgeführt. Josef Pröll konnte in der Steuerreform auch nie glaubhaft vermitteln, dass die Belastungen ausgewogen waren.

In der Debatte der letzten Wochen gab es allerdings einige Lichtblicke. Salzburgs Landeshauptfrau Gaby Burgstaller gehört dazu ebenso wie WKO-Präsident Leitl. Auch der steirische Landeshauptmann Voves ließ in seiner Begründung für das harte Sparprogramm in der grünen Mark aufhorchen, als er sagte: „Wir haben jahrelang über unsere Verhältnisse gelebt!“ So einen Satz hörte man aus der Bundesregierung nicht.

Das Mittelmaß dominiert

Das eigentlich Bedrückende an der Situation in Österreich ist, dass es keine glaubwürdige Alternative zu den jetzigen Regierungsparteien gibt. FPÖ/BZÖ haben zuletzt in Regierungsverantwortung bewiesen, dass einige aus ihrem Umfeld diese vor allem als Chance zur persönlichen Bereicherung gesehen haben – abgesehen davon, dass einige Exponenten der FPÖ nur knapp am Verbotsgesetz vorbeischrammen.

Über eine Regierungsbeteiligung der Grünen muss man sich nicht den Kopf zerbrechen. Bei der jetzigen Schwäche von SPÖ und ÖVP hätte weder Rot-Grün noch Schwarz-Grün eine Mehrheit.

Alle Parteien haben ein Rekrutierungsproblem bei den Funktionären. Es gibt zwar genug, aber es dominiert das Mittelmaß. Das birgt die Gefahr, dass sich die Wähler abwenden und politische Abstinenz üben, nicht mehr wählen gehen. Wozu das führt, hat Max Frisch so formuliert: „Die größte Strafe für alle, die sich nicht für Politik interessieren, besteht darin, dass sie von Leuten regiert werden, die sich für Politik interessieren.“

Es bleibt das politische Engagement außerhalb der Parteien. Eine massive Unterstützung des Bildungsvolksbegehrens von Hannes Androsch wäre gewissermaßen ein außerparlamentarischer Notschrei. Das Engagement von Böhler-Uddeholm-Chef Claus Raidl für ein Volksbegehren zur Einschränkung der Länderkompetenzen verdient ebenfalls Unterstützung.

„Nichts darf sich verändern!“

Wie viel Erfolg diese Volksbegehren haben, muss offen bleiben. Eine grundlegende Reform der Verwaltung, des Pensions- und Gesundheitssystems ist in Österreich wahrscheinlich nur nach einem Krieg oder einer Naturkatastrophe möglich. Ein Krieg ist nicht in Sicht, ein Tsunami auch nicht.

Allenfalls fliegt das Atomkraftwerk Bohunice in die Luft und macht Ostösterreich unbewohnbar. Landeshauptleute, Gewerkschafter und Pensionistenvertreter würden wahrscheinlich selbst in Todesgefahr noch röcheln: „Es darf nichts verändert werden. Es gilt der Vertrauensschutz!“

Zur Person


E-Mails an: debatte@diepresse.comUlrich Brunner (*12. 7. 1938 in Wien) war Schriftsetzer, Korrektor und jahrelang innenpolitischer Redakteur bei der „Arbeiterzeitung“, ehe er 1975 zum ORF wechselte.

Im ORF war er Redakteur im Aktuellen Dienst, Chefredakteur im Hörfunk und Intendant des ORF-Landesstudios Burgenland. [Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2010)

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