Nicht der Mensch ist behindert. . .

Auszug aus der Rede, die der VP-Behindertensprecher gestern bei einem Empfang mit Bundeskanzlerin Angela Merkel gehalten hat.

Gastkommentar

Für 90 Prozent der Bevölkerung ist selbstverständlich, wofür behinderte Menschen tagtäglich kämpfen müssen: Besuch des Kindergartens und der Schule, mit Bus und Bahn zu fahren, einer Arbeit nachzugehen und eine Familie zu gründen. Aber für die europäische Behindertenbewegung ist ein selbstbestimmtes Leben das politische Programm.

Die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen gibt die Zielsetzung vor: Gleichberechtigte Teilhabe in Kindergarten, Schule und Beruf; persönliche Assistenz zur Umsetzung eines selbstbestimmten Lebens. Und beispielsweise das Recht auf Leben – auch schon vor der Geburt! Das sind Rahmenbedingungen, die Menschen mit Behinderung zu Recht einfordern.

Das Bild vom bemitleidenswerten behinderten Menschen, dem man vor allem helfen muss, seinem „untragbaren“ Leben ein Ende zu setzen, ist komplett zu revidieren. Erlösung sieht anders aus. Nicht der Mensch ist behindert, er wird behindert.

Aber können völlig gelähmte Menschen überhaupt glücklich sein? Die Universität Lüttich hat in einer Studie Menschen mit ALS und Locked-in-Sydrom befragt, ob sie glücklich sind. Das erstaunliche Ergebnis: Drei Viertel der Befragten gaben an, dass sie mit ihrer Lebenssituation ebenso zufrieden sind wie gesunde Menschen.

Ausschlaggebend sind dabei soziale Kontakte, Beziehungen, Pflege und eine aktive Teilhabe am Leben sowie die Kommunikation, die oft mithilfe von Computern durchgeführt wird.

Wofür ich Deutschland beneide

Es ist daher meine tiefste Überzeugung, dass wir keine Sterbehilfegesetze brauchen, wie etwa in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Es geht nicht um selbstbestimmtes Sterben, es geht um ein selbstbestimmtes Leben! Um dies zu gewährleisten muss die Palliativmedizin und Hospizbetreuung ausgebaut werden. Für mich sind Gesetzgebungen über aktive Sterbehilfe und/oder ärztlich assistierten Suizid nicht mit dem Wertekanon Europas vereinbar.

Es gibt einige Dinge, für die ich Deutschland sehr beneide: Die Menschenwürde ist im Deutschen Grundgesetz verankert, nicht so in der Österreichischen Bundesverfassung. Wofür ich mich schon lange einsetze, weil die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Verpflichtung, diese zu wahren und zu schützen, die entscheidenden Eckpfeiler für ethische und gesellschaftliche Fragestellungen sein müssen. Und, wofür ich Deutschland noch beneide: Es gibt im deutschen Bundestag die Möglichkeit von Gewissensentscheidung zu Ethikfragen. Diese Kultur der parlamentarischen Auseinandersetzung fehlt im österreichischen Parlament.

Und noch etwas: Die Inklusion von behinderten Menschen kann der Motor für gesellschaftliche Weiterentwicklungen sein. Beispielsweise waren behinderte Kinder in der Schule zunächst ein Störfaktor. Die Inklusion von behinderten Kindern hat die Schule verändert. Und das ist den Eltern zu verdanken, die ihre Kinder nicht länger in Sonderinstitutionen unterbringen wollten.

Eltern von behinderten Kindern haben bei ihren Entscheidungen oft den schwierigeren Weg genommen. Sie mussten sich die Integration erkämpfen. Als Politiker müssen wir dies zum Maßstab nehmen und Mut zu nachhaltigen Lebensentscheidungen statt stimmträchtigen Konsumentscheidungen aufbringen.

Dr. Franz-Joseph Huainigg (*16. 6. 1966 in Paternion, Kärnten) ist Nationalratsabgeordneter und Behindertensprecher der ÖVP.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2011)

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