Über Plagiate und ihre Jäger

Wenn sich die Dissertationskomparatistik erst einmal als Fach etabliert haben wird, sind bahnbrechende Erkenntnisse zu erwarten.

Im zweiten Anlauf hat der „Jäger“ nun also ein „Plagiat“ konstatiert. Beim ersten Versuch, den er auf eigene Faust unternommen hatte, konnte er nur grob „schlampiges“ Belegen und Zitieren feststellen – ein Schluss (ich zitiere die „Presse“ vom 24. 5.), zu dem auch der Philosoph der Uni Zürich kam, als er die Dissertation von Johannes Hahn untersuchte. Die von Peter Pilz angeregte und bezahlte „Nachuntersuchung“ brachte die (erwartbare?, erwünschte?) Verschärfung.

Das lässt drei mögliche Schlüsse zu: Entweder hat der Plagiatsjäger in den letzten Jahren seine Methoden verfeinert. Oder er hat damals „schlampig“ gearbeitet. Oder die Bezahlung hat die Präzision auf wunderbare Weise erhöht.

Jetzt wissen wir: Bei Karl-Theodor zu Guttenberg sind 63,8 Prozent der Zeilen plagiiert (Ergebnis einer „kollektiven Plagiatsdokumentation“); bei Hahn sind es „mindestens 17,2 Prozent“. Man beachte die durch die Kommastelle ausgedrückte (Pseudo-)Exaktheit. Leider gibt es noch keinen Richtwert, ab dem der Plagiatscharakter einer Dissertation feststünde (über fünf Prozent der Zeilen?).

Nun ja, die Plagiatswissenschaft ist noch jung, vielleicht wird sie auch noch bessere Kennwerte für ihren Gegenstand entwickeln. Sie würde dann die Begutachter einer wissenschaftlichen Arbeit in die Lage versetzen, die Zahl der unzitierten Zitate zu prüfen, bevor sie sich daranmachen, die inhaltliche Qualität und Originalität der vor ihnen liegenden Schrift zu beurteilen; aber auf diese kommt es den „Jägern“ wohl kaum an.

Auf den Schultern von Riesen

Zugegeben – Qualität und Originalität sind schwer definierbar, vor allem wenn man bedenkt, wie viel Gedanken anderer Menschen in eine Arbeit einfließen, ohne dass einem die Quelle noch bewusst ist, aus der man mehr oder weniger tief schöpft. „Was kann man Kluges, was Gescheites denken, was nicht die Vorwelt schon gedacht?“ (Goethe, aus dem Gedächtnis zitiert).

Wir stehen – im günstigsten Fall – alle auf den Schultern von Riesen und manchmal, wenn wir ihre Gedanken weiterdenken und sie auf neue Gebiete anwenden, können derart positionierte Zwerge auch weiter sehen als die Riesen selbst. Manchmal. Sehr selten. Oft auch gar nicht.

Aber vielfach ist auch das Bemühen um eine Zusammenschau eine lohnende Arbeit, wenn man sich das Ergebnis „einverleibt“, wenn es Teil des eigenen Weltbilds wird (falls man ein solches zusammenbringt). Frühere Generationen hätten über die Plagiatsjägerei vermutlich gelacht. Gedankenanleihen zu machen – auch ohne Zitierung der Quelle – war durchaus nicht unüblich. Vielfach wurde der Stoff, aus dem Romane und Dramen sind, nebst „Formerfindungen“ ausgeliehen. Und auch manch wissenschaftliche Arbeit ist nur ein Aufguss. Aber um das zu prüfen, bedürfte es mehr als „mit Lust den Staub bibliographischer Quisquilien zu fressen“ (Nietzsche – ebenfalls aus dem Gedächtnis).

Wenn sich die Dissertationskomparatistik erst einmal als Fach etabliert haben wird, sind bahnbrechende Erkenntnisse zu erwarten. Denn der historische Zweig dieser Forschungsrichtung wird auch das Niveau der wissenschaftlichen Arbeiten in einzelnen Epochen aufarbeiten. Dabei wird man feststellen, wie mäßig und fehlerhaft die Arbeiten späterer Berühmtheiten waren, die durch berufliche Erfolge geglänzt haben. Studienabbrecher (unter Politikern etc.) haben freilich nichts zu befürchten.

Prof. Dr. Rudolf Bretschneider (geboren 1944) ist seit 1965 als Marktforscher im Fessel-GfK Institut tätig.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2011)

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