Der Fall Golowatow: Desinteresse an den Verbrechen der Sowjets

Litauen sucht einen Kriegsverbrecher und Österreich lässt ihn laufen: Weil man es sich mit Moskau nicht verscherzen will.

Gastkommentar

Litauen sucht einen Kriegsverbrecher und Österreich lässt ihn laufen. Es war eben ein Krieg, für den sich Österreich nie besonders interessiert hat – und die Welt auch nicht. 1940 hat die Sowjetunion die baltischen Staaten als Folge des Hitler-Stalin-Paktes annektiert, und nach dem Krieg durfte die Siegermacht ihre völkerrechtswidrig errungene Beute behalten. Tausende Litauer sind als Partisanen gefallen oder wurden nach Sibirien deportiert – viele sind dort erfroren und verhungert.

Als am 23.August 1989 Tausende in einer Menschenkette von Vilnius nach Tallinn ihrem Wunsch nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit gewaltlos Ausdruck verliehen, hat die internationale Staatengemeinschaft kurz hingeblickt. Doch schon die Unabhängigkeitserklärungen der drei Staaten waren alles andere als willkommen – nur Gorbatschow und seine Perestrojka nicht stören, war die Devise.

Als am 13.Jänner 1991 Sowjettruppen 14 unbewaffnete Zivilisten vor dem Fernsehturm in Vilnius mit Panzern niederwalzten oder erschossen und Hunderte verletzten, war die Weltöffentlichkeit mit anderem beschäftigt – der zweite Golfkrieg tobte. Und weil das schon wieder 20 Jahre her ist, die Sowjetunion nicht mehr existiert und Russland ein wichtiges Land für Österreich ist, lässt man den Ex-KGB-Oberst, der für Litauen einer der Hauptverantwortlichen für die „Blutnacht“ von Vilnius ist, eben laufen und die Frage nach der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens in juristischen Details versickern.

Litauische Empfindlichkeiten

Für Litauen ist der 13.Jänner 1991 ein Grunddatum der Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Von den tausenden Menschen, die den blutigen Überfall des Fernsehturms erlebt haben, sind viele noch am Leben. Das sind „Empfindlichkeiten“, die sogar der österreichische Außenminister versteht; aber die Justiz hat formal richtig gehandelt – da ist eben nichts zu machen.

Wenn der litauische Außenminister den KGB-Oberst Michail Golowatow mit dem bosnisch-serbischen Militärchef Ratko Mladić vergleicht, ist das sicher danebengegriffen. Denn Golowatow wurde nicht per internationalem Haftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben, und Vilnius war nicht Srebrenica.

Das letzte große KGB-Verbrechen

Doch Litauens Denkansatz ist richtig: Es geht nicht um juristische Spitzfindigkeiten, sondern um eine gemeinsame europäische Rechts- und Erinnerungskultur bezüglich Massakern und Kriegsverbrechen. Hätte man jemanden nach nicht einmal 24 Stunden freigelassen, dem Massaker in Ex-Jugoslawien zur Last gelegt werden, hätte die österreichische Öffentlichkeit laut aufgeschrien. Aber Litauen vor 20 Jahren...

Dabei handelt es sich bei der „Blutnacht“ von Vilnius um das wohl letzte große Verbrechen, das Sowjetarmee und KGB in Europa begangen haben – nach einer Blutspur, die sich durch das 20.Jahrhundert zieht. Jede Untersuchung dieser „Blutnacht“ wäre auch historisch interessant, um die Verantwortung von Michail Gorbatschow zu klären: Geschah das Blutvergießen auf seinen Befehl? Oder waren da schon die Leute am Werk, die für den Moskauer Putsch im August 1991 verantwortlich waren.

Litauen aber muss erneut erleben, dass sich Europa und die Welt für die sowjetischen Verbrechen nicht interessieren – vor allem, weil man es sich mit Russland, das sich zwar als Rechtsnachfolger der Sowjetunion sieht, aber für deren Verbrechen weder Verantwortung übernimmt noch daran denkt, Entschädigungen zu zahlen, nicht verscherzen will. Das hat Litauen von Österreich gerade wieder erfahren.

Cornelius Hell (*1956) war 1984 bis 1986 Lektor für deutsche Sprache und österreichische Literatur an der Universität Vilnius. Übersetzer aus dem Litauischen, auch zahlreiche Publikationen über Litauen.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2011)

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