Wut ist dumm: Die aufmuckende Jugend und ihre falschen Freunde

Aufstand der Jungen. Die Protestierer haben keine Alten, die sie beraten und Leitbilder sein könnten. Was Burma und die Harvard-Uni gemeinsam haben.

Protestbewegungen, die alle eine diffuse „Wut“ hinausschrieen, haben wir in diesem Sommer etliche kommen und wieder verschwinden gesehen. Sie haben vorwiegend mit dem Aufschlagen von Zelten auf öffentlichen Plätzen in der Nähe von Regierungsgebäuden Interesse erweckt. Das Wort Bewegung ist in den meisten Fälle übertrieben, ihre Halbwertszeit ist meist sehr kurz, sie wird mit Beginn der kalten Jahreszeit auch immer kürzer.

Das liegt nicht nur daran, dass sie organisatorisch unerfahren sind, sie sind vor allem inhaltlich kurzatmig.

Am Anfang stand „Stuttgart 21“

Der Ausdruck „Wutbürger“ wurde für die meist eher bürgerlichen Gegner des Neubaus des Bahnhofs „Stuttgart 21“ geprägt. Der Bahnhof wird nach einer höchstwahrscheinlich positiv ausgehenden Volksabstimmung doch gebaut werden. In Dutzenden von europäischen Städten haben kürzlich Großdemonstrationen stattgefunden, am größten war der Zulauf in Rom und naturgemäß in Athen, wo gewalttätiger Protest ja schon seit Monaten zum Alltag gehört.

Während die Aktionen in Stuttgart ein klares Ziel hatten, in Griechenland die dem Land von der EU aufgezwungenen Sparmaßnahmen der Auslöser von verständnisloser Wut sind, lassen sich bei etlichen anderen Bewegungen keine klaren Absichten ausnehmen.

Diffus bleiben auch die Konturen der Bewegung „Occupy Wall Street“, die Aufsehen mit dem Kampieren vor den Wohnungen von Bankern und Finanzmanagern erregt hat. Die allgemein schlechte Wirtschaftslage in den Vereinigten Staaten mit hoher Arbeitslosigkeit, die ausufernde Staatsverschuldung und die immer noch nachwirkende Hypothekenkrise verunsichern gerade den breiten amerikanischen Mittelstand, aus dem sich die Demonstranten rekrutieren. Ironischerweise sind das genau jene Phänomene, die auch die radikal konservative Tea-Party-Bewegung inspiriert haben, zu der „Occupy Wall Street“ in geheimer, nicht eingestandener Konkurrenz steht.

Schuld sind die Banker

Während aber die Tea Party ein klar definiertes Programm von Steuersenkungen und vor allem dem Zurückdrängen des Staatseinflusses auf alle Lebensbereiche hat, lässt sich Ähnliches bei „Occupy“ nicht ausmachen. Dort steht der Protest gegen die Banker und „Plutokraten“, denen die Schuld an den Zuständen gegeben wird, als mobilisierendes Moment im Zentrum.

Während die Tea Party als eine der Partei nicht immer angenehme Graswurzelbewegung der Republikaner gesehen werden kann, ist es nicht gelungen, eine ähnliche Mobilisierung auf der Linken zustandezubringen. „Occupy Wall Street“ hat sich den einschlägigen Avancen der Demokraten bisher entzogen. Meistens kommt zu den Aktionen nur kleines Häufchen von Aktivisten und Sympathisanten. Von einer Massenprotestbewegung wie in den 1960er- und 1970er-Jahren gegen den Vietnam-Krieg, die manche gern sehen wollten, kann keine Rede sein.

In Europa wird Stéphane Hessel von Land zu Land herumgereicht, der mit seinem Büchlein „Empört Euch“ das Leitmotiv für den Protest geliefert hat. Die Auftritte des ehrbaren Greises locken Hunderte in übervolle Säle, wie kürzlich in Wien und Graz.

Wo sind heute die Leitfiguren?

Hessel verströmt wohltuende Emotion, hat den Jungen aber nicht mehr zu sagen als: „Engagiert euch in den Parteien!“ Das könnten sie von einem betulichen Lehrer und in einer Bildungshausdiskussion auch hören. Hessel ist aber so klarsichtig, seine Zuhörer vor den selbst ernannten Rettern der Welt in den diversen NGOs und Antiglobalisierungs-Vereinen zu warnen.

Der 94-jährige KZ-Überlebende ist unverdächtig jeder Eitelkeit und eigener Interessen. Das kann man nicht von allen sagen, die jetzt ihr Herz für die Jugend entdeckt haben. Manche Philosophen, Intellektuelle und auch Journalisten, die sich der Jungen bemächtigt haben, brauchen diese nur zu ihrer Selbstinszenierung.

Die demonstrierende Jugend wird in Wirklichkeit von den Älteren und Alten im Stich gelassen. Hatten die Revolutionäre von 1968 und der folgenden Jahre Leute wie Horkheimer, Adorno und Marcuse als Leitfiguren, haben sie heute niemanden, der ihnen die Welt erklären und Ideen geben könnte.

Ratlose Junge und Alte

Slavoj Žižek, der in den USA wirkende slowenische Philosoph, dient sich den Demonstranten von „Occupy Wall Street“ als Wegweiser an, meint aber über sie: „Sie wissen zwar, wogegen sie sind, sie wissen aber nicht, wofür sie sein sollen.“ Die Wahrheit ist noch ein bisschen trauriger: Sie wissen nicht einmal genau, wogegen sie sind.

Die Ratlosigkeit der Jungen korrespondiert mit der Ratlosigkeit der Alten. Hugo Portisch hat ihr geradezu klassisch Ausdruck verliehen: „Was in der Welt und in Europa vor sich geht, ist viel mehr erklärungsbedürftig als es je zuvor war.“ Wenn nicht einmal der leibhaftige Welterklärer Portisch mehr etwas weiß, warum meldet er sich dann zu Wort?

Bei den Kundgebungen, ob in Madrid, Rom oder New York, wird gegen „die Finanzmärkte“, die Banken oder überhaupt gleich gegen den den „Kapitalismus“ demonstriert. Schon allein daran merkt man die Hilflosigkeit. Genauso gut könnte man gegen das Wetter oder die Gezeiten des Meeres demonstrieren.

Die „Märkte“ als Sündenbock

Die „sich forterbenden antikapitalistischen Affekte“ nennt Botho Strauss die „im Volk wahrscheinlich am weitesten verbreitete intellektuelle Einschränkung“. Die Einsicht in die wahren Ursachen der Weltlage, die sie beklagen, wird den jungen Protestierern von ihren vorgeblichen Freunden vorenthalten.

Die Schuld einfach auf die „Märkte“ zu schieben, ist natürlich bequemer. Da hat man den Feind der Menschheit gleich benannt. Es wäre natürlich bedeutend schwieriger, den Zusammenhang von Geldkrise und überbordender Staatsverschuldung in fast allen Industrieländern zu erklären.

„Nirgends, außer vielleicht in Burma oder an der Harvard University, glaubt man im Ernst daran, dass es eine Alternative zur Marktwirtschaft gibt“, schreibt der ehemalige italienische Außenminister Antonio Martino sarkastisch.

Die Rezepte der Linken

Viele Intellektuelle finden Gefallen an der Krise. In einem Anfall von bürgerlichem Masochismus bekennen plötzlich reihenweise die Redakteure des Feuilletons der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Gefolge ihres Chefs Frank Schirrmacher, sie hätten sich geirrt, die Linke habe doch recht gehabt. Wobei, muss man da sogleich fragen.

Die Linke und eine Heerschar von Schriftstellern und Essayisten hat zur Analyse der Finanz- und Wirtschaftskrise nichts beigetragen außer der Beschwörung der Krisentheorie von Karl Marx. Es sind genau die Rezepte der Linken – nämlich die unentwegte Schuldenpolitik zur angeblichen Stimulierung des Arbeitsmarktes und des Konsums – die in die Krise geführt haben.

Aber vielleicht, vermutet Botho Strauss hinterlistig, ist eine Absicht dabei: nämlich die allgemeine Armut herzustellen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2011)

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