Schuldenbremse als Symptomkur: Schnurstracks in die Depression

Radikale Sparkuren bilden den Abschluss einer Entwicklung, die mit der Aufgabe des Systems fester Wechselkurse begonnen hat.

Politiker und Politikerinnen, die Schuldenbremsen verankern, gleichen einem Arzt, der einer Krankheit mit Nachdruck befiehlt: Verschwinde! Beides ist gut gemeint – doch weder ein Kranker noch die Wirtschaft funktioniert wie ein Auto.

Eine systemische Diagnose analysiert die Entwicklung des Budgetsaldos im Kontext der Finanzierungssalden aller Sektoren: Lenken feste Wechselkurse, niedrige Zinsen und stabile Rohstoffpreise das Gewinnstreben auf Aktivitäten in der Realwirtschaft, so übernehmen die Unternehmen die Überschüsse der Haushalte (Sparen) in Form von Investitionskrediten (Defizit) und verwandeln sie in Maschinen und Arbeitsplätze.

Bei annähernd ausgeglichener Leistungsbilanz (Saldo des Auslands) ist auch der Staatshaushalt ausgeglichen.

Für die langfristige Entwicklung der Staatsverschuldung ist zusätzlich das Verhältnis von Zinssatz zu Wachstumsrate von Bedeutung. Liegt der Zins unter der Wachstumsrate, so kann ein Schuldnersektor (Unternehmen, Staat) permanent mehr Kredite aufnehmen, als er an Zinszahlungen zu leisten hat. Dies fördert die Investitionsdynamik der Unternehmen, die Staatsschuldenquote sinkt.

„Pseudo-Keynesianismus“

Unter den realkapitalistischen Anreizbedingungen der 1950er- und 1960er-Jahre ist daher die Staatsverschuldung stetig gesunken, gleichzeitig wurde der Sozialstaat stetig ausgebaut. Umgekehrt die Entwicklung seit den 1970er-Jahren: Instabile Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktienkurse sowie ein Zinsniveau über der Wachstumsrate dämpfen die Realinvestitionen der Unternehmen. Gleichzeitig erhöht die Instabilität dieser Preise die Gewinnchancen von Spekulation, gefördert durch die Schaffung der Finanzderivate.

Folge: Der Unternehmenssektor drehte seinen Finanzierungssaldo in einen Überschuss. Trotz verstärkter Sparbemühungen erlitt der Staat ein Defizit, in erster Linie durch steigende Arbeitslosigkeit und geringes Einnahmenwachstum. Bei positivem Zinswachstumsdifferenzial nahm die Staatsschuldenquote zu.

Der bisherige Verlauf der großen Krise verdeutlicht diese Zusammenhänge: Zwischen 2003 und 2007 bauen drei „Bullenmärkte“ (Immobilien, Aktien, Rohstoffe) ein enormes Absturzpotenzial auf, das durch die US-Hypothekenkrise aktiviert wird. Die drei nachfolgenden „Bärenmärkte“ verursachen die größte Vermögensvernichtung der Nachkriegszeit.

Diese manisch-depressiven Preisschwankungen sind typisch für alle Finanzmärkte, aber uneinsichtig für marktreligiöse Ökonomen. Daher waren gierige Spekulanten, verantwortungslose Notenbanker oder vermeintlich soziale Politiker die Schuldigen.

Die Symptomkuren der Konjunkturpakete konnten keinen nachhaltigen Aufschwung einleiten: Dieser „Pseudo-Keynesianismus“ kann unter finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen nicht funktionieren, niedrige Zinsen und Steuererleichterung werden zur Ausweitung der Spekulation verwendet. Gleichzeitig steigt die Staatsverschuldung.

Beides ließ sich profitabel verbinden: Mithilfe von Credit Default Swaps (CDS) begannen die Finanzalchemisten auf den Bankrott von Staaten zu wetten, und sie wählten als erstes Ziel das schwächste Glied der „Eurokette“, Griechenland. Die Zinsen stiegen immer mehr, ein Rettungsschirm musste her. Und eine radikale Sparkur. In der Folge schrumpfte die Wirtschaft vier Jahre lang, und damit war klar: Die Krise ist im Speziellen eine „Griechenland-Krise“. In der Zwischenzeit erfasste die „CDS-Epidemie“ immer mehr Länder, die Zinsen stiegen in allen hoch verschuldeten Ländern. Damit war klar: Die Krise ist im Allgemeinen eine Staatsschuldenkrise.

Die Befreiung der Finanzmärkte

Also müssen jetzt alle Euroländer ihre Sparkuren verstärken und so die Krise verschärfen. Dies wäre nur dann nicht der Fall, wenn Unternehmen und Haushalte ihre Nachfrage kompensatorisch ausweiteten. Tatsächlich machen sie das Gegenteil, da die Sparpolitik ihre Einkommen verringert.

Schuldenbremsen in ganz Europa bilden den krönenden Abschluss einer Entwicklung, die vor 40 Jahren mit der Aufgabe des Systems fester Wechselkurse begonnen hat. Die wirtschaftswissenschaftlichen Proponenten und Begleiter auf diesem Weg – Milton Friedman, Friedrich A. von Hayek und ihre Schüler – hatten ein langfristiges Ziel vor Augen: den Primat des Markts über die Politik.

Denn nur in einer totalen Marktwirtschaft könne Freiheit gedeihen. Erreicht wurde das hohe Ziel durch die Befreiung der Finanzmärkte, sie sind nun die richtenden Wesen, denen sich die Politik unterwerfen muss.

Also bittet die Politik „die Märkte“ durch Schuldenbremsen um Gnade und Vergebung. Arme Menschen bekommen zwar keine ausreichenden Sozialleistungen mehr, das aber in Freiheit.

Instabiles Gesamtsystem

Grotesk daran: Die Debatte über Schuldenbremsen lenkt die Aufmerksamkeit „der Märkte“ auf das jeweilige Land. Seit Professor Felderer seine Sorge um die Bonität Österreichs kundmachte und eine Schuldenbremse einforderte (9.November), sind die Zinsen für österreichische Staatsanleihen um 20 Prozent gestiegen (von drei auf 3,6 Prozent). Der stärkste Anstieg erfolgte nach dem Regierungsbeschluss über die Schuldenbremse.

Des Weiteren merkwürdig: Wann immer die Politik in jüngster Zeit ankündigt, das Sparen zu verschärfen (31. Juli: Kompromiss im US-Kongress, 16. August: Merkel und Sarkozy verordnen Schuldenbremse etc.), gehen die Aktienkurse auf Talfahrt und die Zinsen steigen. „Die Märkte“ wissen: Das kann nicht funktionieren, und „sie“ erhoffen sich anderes von der Politik als „more of the same“.

Wenn zwei Subsysteme vom jeweils anderen den Anker erwarten, wird das Gesamtsystem fundamental instabil.

Ein bedauerlicher Kollateralschaden der finalen Symptomkur ist unvermeidlich, die Depression: Alle Eurostaaten senken ihre Nachfrage, die Unternehmen und Haushalte (deshalb) aber auch.

Roosevelts „New Deal“

Eine solche Krise ist der historische Normalfall im Übergang von finanz- zu realkapitalistischen Anreizbedingungen – siehe die Perioden zwischen 1873 und 1890 sowie zwischen 1929 und 1948. Die Emanzipation aus selbst verschuldeter Marktreligiosität braucht halt ihre Zeit, und die Theologen brauchen etwas mehr.

Die Politiker und Politikerinnen könnten noch das Schlimmste verhindern, wenn sie den Mut hätten, den Rat der Mainstream-Ökonomen zu verwerfen, also selbst und Anteil nehmend zu denken. Roosevelt hatte diese Statur: Durch höhere Beiträge der Bestgestellten finanzierte er öffentliche Investitionen und Sozialleistungen.

Mit diesem „New Deal“ führte er die USA (samt ihren „Reichen“) auf einen besseren Weg, als ihn Deutschland mit der Sparpolitik von Reichskanzler Heinrich Brüning eingeschlagen hatte.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Stephan Schulmeister (* 26. 8. 1947) studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Uni Wien. Mehrere Studienaufenthalte im Ausland. Seit 1972 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Schwerpunkte u. a.:
Finanzmärkte und internationaler Handel. [Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2011)

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