Ruf nach Schandlisten: Die Wiederkehr des Mittelalters

Ist der Pranger mit einer humanen bürgerlichen Gesellschaft vereinbar? Erkennen wir Diktaturen nur im Rückblick?

Wie schön waren die Zeiten, als vorbeigehende Passanten die Sünder anspucken durften! Wir müssen uns damit begnügen, Namen, vielleicht auch Adressen, am Bildschirm zu sehen! Für die 900.000 Analphabeten reichen Fotos, Google Maps und GPS! Die Folgen: Nicht nur Nachbarn und Steuerbehörde wissen, wo es etwas zu holen gibt. Familienmitglieder kommen in Sippenhaftung. Toll, hatten wir doch schon einmal!

Das System der Datendiktatur ist noch ausbaufähig: Vorratsdatenspeicherung erlaubt die Dokumentation vertraulicher Gespräche. Die Privatsphäre abschaffen im Sinne der Transparenz – das ist Zeitgeist! Mit unseren Banken sollen wir nur mehr per E-Banking kommunizieren, um kleine Sparer besser kontrollieren zu können. Aber ist die Spekulationskrise nicht zuletzt durch die ungeahnten Möglichkeiten der Informationstechnologie (IT) entstanden? Wo ist hier die Transparenz?

Während die Weisen in Davos Auswege für die Wirtschaft suchen, sind wir in Österreich Vorreiter des Fortschritts. Die Einführung der elektronischen Gesundheitsakte (ELGA), ist einmalig, sind doch IT-Großmächte wie die USA und Großbritannien an dem Monsterprojekt gescheitert. Wir Österreicher aber können alle Gesundheitsdaten elektronisch erfassen!

Widerstand gegen Datendiktatur

Ob das Großprojekt, bei dem der Großkonzern Siemens gute Chancen hätte, deshalb gefördert wird, weil Brigitte Ederer dem roten Parteiadel entstammt und Peter Löscher Wirtschaftsweiser der schwarzen Reichshälfte ist, wage ich nicht zu beurteilen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Im Zeitalter der Rankings bietet die Datenerfassung aber ungeahnte Geschäftsmöglichkeiten: Bankgeheimnis, Steuergeheimnis, Arztgeheimnis – alles Retro-Elemente! Ärzte verteidigen nur ihre Macht, wenn sie auf die Probleme, die ELGA mit sich bringt, hinweisen, sagen die Befürworter des Datenmonsters. Die Bevölkerung ist uninformiert und weiß nicht, was für Möglichkeiten in ELGA schlummern.

Die Werbung der Ärztekammer mag von manchen Betrachtern als geschmacklos empfunden werden, aber hier wehrt sich ein Berufsstand gegen die Auswüchse einer Datendiktatur!

Für ELGA ist nichts zu teuer

Gesundheitsminister Stöger will Ärzte mit Geld ködern und sie auseinanderdividieren. Ob das gelingt? Eigentlich sollte ja Geld mit ELGA gespart werden, doch für ELGA ist uns nichts zu teuer. Vielleicht müsste eine Informationskampagne gesponsert werden, die die Bevölkerung über die ungeahnten Möglichkeiten der Datenbenützung informiert.

Im Sinne der Transparenz sind künftig Listen von Personen mit Langzeitkrankenständen zu veröffentlichen; gleich mit den Diagnosen, damit die öffentliche Diskussion im Internetchat auch eine Basis hat!

Arztgeheimnis-Bankgeheimnis-Steuergeheimnis, es fehlt noch die Abschaffung des Wahlgeheimnisses! Auf zum E-Voting! Nach Vorbild der hochgelobten Facebook-Revolutionen wollen auch wir via Internet mitbestimmen! Manipulationsmöglichkeiten miteingeschlossen!

Für mich bleiben Fragen offen: Ist der Pranger mit einer humanen bürgerlichen Gesellschaft vereinbar? Erkennen wir Diktaturen nur im Rückblick? In Hitlers „Mein Kampf“ stand alles drinnen – wer hat das Pamphlet damals gelesen? Sind wir heute im Informationszeitalter desinformiert – oder nur desillusioniert, weil „man eh nichts machen kann“? Noch ist Widerspruch möglich – wie lange noch?

Univ.-Prof. Dr. Renate Heinz ist Fachärztin für innere Medizin in Wien.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2012)

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