Warum ich Sonderschullehrerin geworden bin

Gastkommentar. Von unendlich verstörten Kindern, die am liebsten unter dem Tisch sitzen – und überforderten Eltern, denen kaum jemand zuhört. Die preisgekrönte Rückschau einer Sonderschullehrerin.

"Wan er amoi net in d Schui kummt, hob i eam daschlogn!“ sagt der große, schwere Mann, der mir beim ersten Elternsprechtag gegenübersitzt, zu mir und ich ringe mit meinem Behüteten-Mädchen-Hochdeutsch nach einer Antwort. Spüre, dass es da kaum eine Antwort gibt, und verstehe mit einem Mal, warum das Kind in der Klasse am liebsten unter dem Tisch sitzt.

Ich höre ihm zu, dem Vater, dem Erzeuger, dem wahrscheinlich genauso keiner je zugehört hat, wie er auch jetzt seinem Sohn nicht zuhören kann. Er redet von dem „Strawanzer“, dem er noch die „Wadln firerichtn wiad“ und ich sehe das sechsjährige Kind vor mir, das in seinem kurzen Leben sicher schon mehr erlebt hat als ich. Und in diesem Moment weiß ich, warum ich Sonderschullehrerin geworden bin...


Es ist mein erstes Schuljahr, und es hat mich aus meiner heilen Einzelkindwelt in eine berüchtigte Wiener Randsiedlung verschlagen. Es ist eine Sprache, in die ich mich erst einhören muss, es ist eine Luft, in der ich erst lernen muss, atmen zu können. Es ist ein Unterschied, sogenannte „Fallbeispiele“ in einer Vorlesung vorgekaut zu bekommen oder dann plötzlich mitten in solchen „Fällen“ zu leben, zu unterrichten, zu fühlen und vor allem zu handeln.

„Dieses Kind werden wir aus der Schule entfernen“, sagt der Direktor während einer Konferenz. Ich horche auf. Er ist der Bruder eines meiner Schüler. „Er ist frech, er ist renitent, er ist aggressiv – so hieß das damals noch – und, was das Schlimmste ist“, sagt der Direktor, „er hat schon dreimal unerlaubterweise das Schulhaus während des Unterrichtes verlassen. Diesen Schüler werden wir aus unserer Schule entfernen.“

Ich hebe die Hand. Spontan, ohne viel nachzudenken. „Bitte, Frau Kollegin?“ – damals war man noch per „Sie“ mit seinen Direktoren. „Ich möchte dieses Kind zu mir in die Klasse nehmen.“ Dreiundzwanzig Paar Augen sind mit einer Mischung aus Entsetzen, Ungläubigkeit und Unverständnis auf mich gerichtet. Der Direktor glaubt, sich verhört zu haben. „Was wollen Sie? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Dieses Kind ist unerziehbar!“, sagt er und will eigentlich zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen. „Ich möchte es versuchen“, höre ich mich sagen und weiß wieder ganz genau, warum ich Sonderschullehrerin geworden bin...


Er kam zu mir in die Klasse. Der Junge war unendlich verstört, versteckte sich hinter Härte und Rowdyverhalten, knallte mir Hefte vor die Füße, beschimpfte mich, tat so gut wie nie, was ich von ihm verlangte. Aber eines, eines hat er nie wieder getan: Er hat nie wieder unerlaubterweise das Schulhaus verlassen. „Trag deine Probleme nicht in die „obere Etage“, hatte ich ihm klargemacht. „Machen wir uns unseres untereinander aus. Wenn du davonrennst, kann ich dir nicht mehr helfen, dann haben wir verloren.“ Das verstand er. Es gab eine Dachbodenstiege. Dorthin flüchtete er mit meinem Einverständnis, wenn es ihm zu viel wurde. Aber das Schulhaus hat er nie mehr während des Unterrichtes verlassen. Und wieder einmal wusste ich, warum ich Sonderschullehrerin geworden war...


Deaf i Ihna in da Früh helfn kumma, Frau Lehrarin?“, fragte mich einer meiner Schüler eines Tages, nachdem er herausgefunden hatte, dass ich immer schon sehr früh morgens, meistens gegen halb sieben, in der Schule war. „Na, klar, komm doch!“ Das war in der vierten Klasse. Und dann kam er bis zur achten Klasse fast jeden Tag. Erzählte und erzählte und erzählte, und ich lauschte und lernte von ihm. Er erzählte von seinem Vater, der Trinker war und den er kaum kannte, und von seiner Mutter, die krank war und mit den zehn Kindern allein kaum fertig wurde, und von seiner ersten Liebe und dem ersten Kuss und den Schlägereien auf der Straße. Und dann erzählte ich, und er lauschte und lernte. Lernte, dass man nicht immer gleich hinhauen darf und es auch andere Möglichkeiten der Kommunikation geben kann. „Kathi, i zähl heit no bis drei, bevor i zuaschlagen will. Und dann schlog i nimma zua“, sagt mir der heute Vierzigjährige. Und ich weiß ganz genau, warum ich Sonderschullehrerin werden wollte...


Die Türschnalle vom Klo hat einer zertreten. Um allen zu zeigen, wie stark er ist. Und dann ist sie abgebrochen und war kaputt. Eine Mordsaufregung bei der Schulleitung. Ersetzt muss das werden, und ich soll umgehend die Eltern verständigen. Wir setzten uns zusammen. Die ganze Klasse im Kreis. Wie eigentlich immer, wenn es Probleme gibt. „Ned de Ötan!“, hat er zu mir gesagt, in der Pause, und ich ahne, warum. „Göd hob i kans, oba i kan scho ans aufstölln!“, meint er, und genau das gilt es für mich, zu verhindern.

Wir reden, und irgendwie taucht die Idee auf, wenn sechzehn Kinder und eine Lehrerin einen kleinen Anteil zahlen, muss nicht einer, auch wenn er allein daran schuld ist, so viel zahlen. Und das ist eine tolle Idee. Am nächsten Tag sammeln sich Schillinge und Groschen – so hieß das Geld damals noch – auf meinem Tisch. Ich stocke den Rest auf, und als ich die vielen stolzen Augen und das erleichterte Lächeln des Täters sehe, weiß ich wieder einmal ganz genau, warum ich Sonderschullehrerin werden wollte...

Kathi, i hob schene Zähnd! Schau, i hob ma s mochn lossn!“ sagt der erwachsene Mann zu mir. „Und des host du ma beibrocht!“ Ja, wir sind zum Zahnarzt gefahren. Ein ganzer Schwung von Kindern, die in ihrem ganzen Leben noch nie Zähne geputzt haben, geschweige denn wissen, was ein Zahnarzt ist. Die Eltern haben eingewilligt. Na klar. Eine Verantwortung, die sie nicht tragen wollen, tragen können, weil sie es selbst nie so gelernt haben. Wenn sich die verrückte Lehrerin das einbildet, soll sie nur machen. Die Hauptsache, es kostet nichts!

Und dann fahren wir. Irgendwie haben sie es mir verziehen, dass es wehgetan hat, das Bohren. Sie haben es alle durchgestanden und vielleicht hat der eine oder andere wirklich nachher ab und zu seine Zähne geputzt. Ja, auch darum bin ich Sonderschullehrerin geworden...

Auf einen Blick

Schreibwettbewerb. Auf der Internetplattform my-story.com waren Lehrerinnen und Lehrer im Vorjahr eingeladen, ihre ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Jetzt wurden die besten und berührendsten Geschichten von der My-Story-Redaktion ausgewählt. Ab 7. Februar können die Texte in „My Story. Das Magazin“ nachgelesen werden. Auf den ersten Platz wurde die Erzählung von Katharina Darthe, Lehrerin an einem sonderpädagogischen Zentrum im 12. Wiener Gemeindebezirk, gewählt. „Die Presse“ bringt den Text in einer leicht gekürzten Fassung. Dieser und weitere Texte auf: www.my-story.com [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2012)

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