Wie Europa wieder den Rückhalt seiner Bürger gewinnen kann

Gastkommentar: Mit offenen Diskursen und mehr partizipativer Demokratie ließe sich die Kluft zwischen Regierenden und Regierten überbrücken.

Die Kluft zwischen Politik und Bürger scheint immer größer zu werden – dies gilt für Österreich und in noch höherem Maße für die EU beziehungsweise Europa. Während die Spitzen der europäischen Politik und Wirtschaft weitgehend mehr gemeinsame Kompetenzen, also „mehr Europa“ fordern, ist die Stimmung unter den europäischen Bürgern so mies wie noch nie, tendiert klar zu „weniger Europa“.

Laut Eurobarometer (eine regelmäßige Erhebung) meinten zum Jahreswechsel 55 Prozent der Europäer, dass sich Europa in eine negative Richtung entwickle; nur 19Prozent artikulierten positive Gefühle. Die Meinung der Österreicher deckt sich auf den Prozentpunkt genau. Gleichzeitig sind Österreichs Regierende in der Bevölkerungsmeinung so unten durch wie noch nie, seit demoskopische Erhebungen durchgeführt werden.

Auf der anderen Seite verlangt die Schulden- und Eurokrise die Überwindung des protestfördernden lähmenden Stillstands und die entschlossene Inangriffnahme längst überfälliger Strukturreformen. Die Krise bietet daher als Weckruf die möglicherweise letzte Chance für die Regierenden, Vertrauen wiederzugewinnen, das Primat der Politik über die Wirtschaft wiederherzustellen und zu zeigen, dass das demokratisch-marktwirtschaftliche Modell anderen – vor allem fernöstlichen – Konzepten gegenüber nicht nur konkurrenzfähig, sondern überlegen ist.

Politische Alarmzeichen

Das Diktat der „Märkte“ oder Ratingagenturen und die Flucht zu „Expertenregierungen“ sind demokratiepolitische Alarmzeichen. Ein offener Diskurs zu brennenden europäischen Themen und die Ergänzung der repräsentativen durch bekannte und neue Elemente direkter und partizipativer Demokratie scheinen unabdingbar, um die Kluft zwischen Regierenden und Regierten zu überbrücken. Das Volk ist auch klüger als politische Zyniker unterstellen. Mit dem Mut zu Wahrheit und der Bereitschaft zum natürlich auch mühsamen Dialog kann und muss die Mehrheit der Bevölkerung für notwendige, auch unpopuläre Maßnahmen gefunden werden.

Wenn allerdings der Eindruck entsteht, die Politik fürchte sich vor dem Souverän, und wenn seriöse und offene Informationen fehlen, dann gedeihen Demagogie und gnadenloser Populismus.

Man muss dafür nicht das Schweizer Beispiel anführen. Gerade auch in Baden-Württemberg hat sich das eindrucksvoll gezeigt. Nach monatelangen, erbittert geführten Debatten sprachen sich in einer landesweiten Volksbefragung bei einer beachtlichen Beteiligung von 48,8 Prozent fast 59 Prozent für den umstrittenen unterirdischen Bahnhof Stuttgart 21 aus.

In Österreich erlebte die direkte Demokratie im Frühjahr 1994 eine Sternstunde: Nachdem sich die Regierungsparteien, Sozialpartner, Medien und Zivilgesellschaft einer gemeinsamen Argumentationsanstrengung unterzogen, stimmten zwei Drittel der Österreicher für den EU-Beitritt. Um eine solche konzertierte und zugleich kontinuierliche Aktion geht es auch jetzt, damit Europa nicht als Projekt einer abgehobenen Elite empfunden, sondern von den Bürgern mitgetragen wird.

Es geht nicht um plumpe kontraproduktive Propaganda, sondern um eine nachhaltige Pro-und-Kontra-Diskussion. Und die Europawahlen sollten durchaus auch mit einer Volksabstimmung über künftige europäische Perspektiven und damit der Legitimierung der EU-Politik verbunden werden. (Wer erinnert sich angesichts der großen EU-Umwälzungen noch an den Faymann-Krone-Brief?)

Genauso braucht Europa ein Gesicht in Form von Personen, die neben den Abgeordneten gewählt werden – seien es der EU-, Kommissions- und/oder Ratspräsident oder der nationale EU-Kommissar.

Wir sind die EU!

Es fehlt aber auch die „europäische Öffentlichkeit“ – der europäische Fernsehkanal, das europäische Internetportal etc. Nationale Minister müssten eigentlich vor und nach jeder Ratssitzung öffentlich Rechenschaft legen. Bundesparlament und Landtage müssten sich verstärkt der europäischen Agenda widmen, die ohnehin 80Prozent der nationalen und regionalen Gesetzgebung und Normengebung bestimmt.

Und es muss endlich Schluss damit sein, dass Erfolge der und in der EU von der nationalen Politik als ihr Verdienst abgefeiert werden, während alles vermeintlich Negative, an dem aber meist in den EU-Räten mitgewirkt wurde, als Misserfolg der „bürgerfernen Bürokraten“ verkauft werden.

Es muss kommuniziert werden: Wir sind die EU, zumindest ein wesentlich mitgestaltender Teil. Es ist ein nicht hinnehmbares Paradoxon, dass die Wahl zur immer bedeutsamer werdenden europäischen Ebene die mit der geringsten Beteiligung ist.

Es ist dem deutschen Großphilosophen Jürgen Habermas beizupflichten, wenn er in der EU ein gravierendes Demokratiedefizit erblickt und fordert, Europa müsse „auf den Marktplätzen zu dem lebenswichtigen Thema“ werden.

Missachtung der Bürger

Der Vertrag von Lissabon räumt den nationalen Parlamenten und Regionen einige interessante neue Kompetenzen ein und schafft auch die Möglichkeit für europäische Bürgerinitiativen, also eine Form des staatenübergreifenden Volksbegehrens. Dies soll auch über Internet möglich sein. Es ist daher höchste Zeit, dass dies auch für die innerösterreichischen Volksbegehren zulässig und damit der schikanöse und im digitalen Zeitalter anachronistische Weg zum Gemeindeamt obsolet wird.

Wesentlich sind aber auch Mechanismen, damit Volksbegehren nicht sanktionslos vom Parlament schubladisiert werden können, wie das in den letzten Jahren in Österreich bei zahlreichen, von mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten unterstützten passiert ist. Diese Bürgermissachtung fördert nur Ohnmachts- und Verdrossenheitsgefühle. Nicht zuletzt deswegen blieb der Erfolg des Bildungsvolksbegehrens überschaubar.

Daher sind Überlegungen von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, aber auch von ÖVP, FPÖ und Grünen hoffnungsfroh stimmende Signale. Volksabstimmungen nach einem ausreichend unterstützten Volksbegehren standen auch auf der Regierungsagenda des Kabinetts Schüssel.

Neue Optionen der Beteiligung

In zahlreichen Landesverfassungen finden sich bemerkenswerte Beispiele: In der Steiermark können 17.000 von zuletzt 970.000 Wahlberechtigten, also knapp zwei Prozent, oder 80 von derzeit 542Gemeinden eine Volksbefragung erwirken; ein von 50.000 unterstütztes Volksbegehren zieht eine Volksbefragung nach sich.

Regelmäßige Volksbefragungstage – etwa alle zwei Jahre – ergäben Sinn. Neben diesen „traditionellen“ Formen sollten auch neue Optionen der Bürgerbeteiligung forciert werden, wie Bürgerbegutachtungsverfahren, Internetforen, Social-media-Nutzung etc.

Eine krisenfeste und vitale Demokratie braucht keine Lethargie- und Wutbürger, sondern Aktiv- und Mutbürger mit entsprechenden Mitgestaltungsangeboten.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comProf. Herwig Hösele
(*17. Juli 1953 in Graz) war Journalist, Pressereferent der Steirer-VP und Präsident des Bundesrates. Er war Mitinitiator des weitgehend folgenlos gebliebenen Österreich-Konvents zur Staatsreform.
Seit 2008 engagiert er sich als Koordinator der Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2012)

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