Sieggewohnter Kreml wappnet sich gegen die „Orange Gefahr“

Gastkommentar. Wladimir Putins Wiederwahl bei der Präsidentenkür ist sicher. Die jüngste Protestbewegung ist der Machtelite dennoch nicht geheuer.

Die vergangenen drei Monate stechen aus den Jahren der Herrschaft von Wladimir Putin vor dem Hintergrund einer öden, praktisch gleichgeschalteten, „gesäuberten“ sowie durch Angst und Selbstzensur paralysierten politischen Landschaft, wie sie Putin und seine Mannschaft seit 1999 geschaffen haben, deutlich hervor. Diese kurze Periode wird in Erinnerung bleiben – dank des kreativen und spöttischen Einfallsreichtums vieler Menschen, die sich in Moskau und anderen Großstädten auf Kundgebungen versammeln, um ihren Protestgefühlen und neu geweckten Hoffnungen Ausdruck zu verleihen.

Viele von ihnen tragen kleine weiße Schleifen, ein spontan entstandenes Symbol des Protests. Auch Kinderwägen, Autos und sogar Hunde werden mit weißen Schleifen geschmückt. Bei Schnee hielt man weiße Blumen in der Hand. Die treffendsten und scharfsinnigsten Slogans, die bei den oppositionellen Kundgebungen auf Plakaten zu sehen waren, werden mit Freude und Stolz gesammelt und ins Internet gestellt. Denn politische Satire und politischer Witz sind in den vergangenen Jahren so gut wie unmöglich und daher ziemlich rar geworden.

Ohnmächtige Opposition

All das sind Versuche der Menschen, auf eine eigene Stimme zu insistieren und Solidarität miteinander zu zeigen. Beides gelingt aber nur sehr eingeschränkt. Die Proteste, die sich an den zahlreichen, ja systematischen Fälschungen bei den Wahlen zur Staatsduma (Unterhaus des Parlaments) am 4.Dezember 2011 entzündet haben, haben bisher kaum konkrete Resultate gebracht.

Die Duma-Wahlen wurden von den Behörden für „legitim“ und die vielfach monierten und dokumentierten Fälschungen für unbedeutend erklärt. Doch zur politischen Abstinenz erzogene Menschen freuten sich bereits darüber, dass die Kundgebungen nicht mehr brutal von der Polizei auseinandergejagt wurden.

Zwar liegt die Zahl der Verhaftungen Oppositioneller in den vergangenen Wochen deutlich höher als zuvor. Doch ist unübersehbar, dass friedliche Kundgebungen und Protestaktionen für einfache Bürger wieder möglich sind. Und viele Menschen berichten erstaunt, ja glücklich davon, dass sie nach einer Straßenaktion wieder unversehrt nach Hause gehen konnten.

Manche sahen sich sogar an die Jahre der „Perestroika“ unter Michail Gorbatschow (1985 bis 1991) erinnert, als Zehn- und dann Hunderttausende für Demokratie und Reformen auf die Straße gingen. Diese aktuelle Erfahrung ist viel wert. Aber sie ist wahrscheinlich bereits das Hauptergebnis des gesamten Protests.

Charakteristisch für die spontane Protestbewegung ist, dass sich die meisten Anführer und Sprecher nicht oder nicht eindeutig parteipolitisch engagieren. Es handelt sich um Journalisten, Blogger, Schriftsteller, Schauspieler, Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten. Die „Polittechnologen“ im Kreml reagierten mit einer breiten Kampagne populärer Kulturschaffender für Putin. Diese und andere Gegenaktionen – auch das Putin-Lager schickte in den Großstädten Zehntausende Anhänger auf die Straßen – zielten auf eine Minimierung der Bedeutung der Protestwelle ab.

„Handlanger des Auslandes“?

Im Kreml zeigte man wenig bis keinen Respekt vor den Anliegen der Protestbewegung. So hieß es, dass sie „vom Ausland gesteuert“, unmoralisch und gefährlich sei.

Putin unterstellte oppositionellen Aktivisten, bereit zu sein, „jemanden zu opfern und dann die Machthaber zu beschuldigen. Seit zehn Jahren versuchen sie, diese Methode und Taktik anzuwenden – besonders jene, die im Ausland sitzen. Das weiß ich ganz genau. Die können jemanden umlegen und dann die Machthaber beschuldigen. Das sollen alle wissen.“

Diese Worte wurden unter Oppositionellen nicht nur als absurde Interpretation der jüngsten Ereignisse, sondern auch als direkte Drohung verstanden. Diese Drohung ließe sich aber auch als verdeckte Anerkennung des Potenzials der Protestbewegung lesen.

Keine überzeugende Alternative

Die Behörden jedenfalls betrachten die Manifestationen mehrerer zehntausend Menschen (was bei rund zwölf Millionen Einwohnern Moskaus eigentlich wenig ist) als Gefahr. In Moskau läuft bereits eine massive Propaganda „gegen Orange“. Die Polizei und die Pro-Putin-Jugendbewegung „Naschi“ („Die Unseren“) verhindern gemeinsam die Ausgabe von Zelten und Agitationsmaterial durch Oppositionelle. Der Kreml trifft Vorbereitungen, um nach der morgigen Präsidentenwahl die Gefahr eines Umsturzes nach dem Muster der „Orangen Revolution“ in der Ukraine 2004 abwehren zu können. Eine politisch homogene und organisatorisch gefestigte Opposition, die Putins Herrschaft ernsthaft herausfordern könnte, ist jedoch nicht in Sicht. Paradoxerweise machten die jüngste Protestbewegungen deutlich, dass es auf Russlands jetziger politischer Landkarte eigentlich keine Alternative zu Putin gibt.

Auf dem Wahlzettel steht kein einziger Name, der eine überzeugende politische Alternative verkörpern würde. Der Kreml hat die Wahlen wieder einmal so konstruiert, dass eine Demontage des „Systems Putin“ von vornherein ausgeschlossen ist.

In dieser ausweglos scheinenden Situation hat Wladimir Bukowski, eine der letzten lebenden Galionsfiguren der sowjetischen Dissidentenbewegung, dazu aufgerufen, für den Milliardär Michail Prochorow zu votieren. Er hat das pragmatisch begründet: Prochorow sei der einzige Kandidat, der keine Kreatur des Kremls und daher fähig sei, das bestehende politische System zu ändern.

„...nur nicht für Putin.“

Genau das aber bestreiten nicht wenige politische Beobachter. Russlands „Häftling Nummer1“, der frühere Öltycoon Michail Chodorkowski, meldete sich ebenfalls zu Wort: Man möge stimmen, für wen man wolle, nur nicht für Putin. Selbst wenn die anderen vier Kandidaten nur das „Symbol einer Alternative“ verkörpern würden, sei es wichtig, eine andere Entwicklungsrichtung für das Land zu fordern. Objektiv betrachtet – und das ist selbst aus Chodorkowskis sibirischem Straflager gut erkennbar – ist momentan einfach nicht an mehr zu denken.

Dem zu erwartenden Wahlergebnis ist nicht zu trauen. Allein in Moskau haben sich bereits 2500 Personen als freiwillige Wahlbeobachter gemeldet. Doch gleichzeitig wächst die Überzeugung, dass es viel wichtiger ist, am Montag auf die Straße zu gehen als am Sonntag ins Wahllokal.

Bei Meinungsumfragen gaben freilich nach wie vor etwa zwei Drittel der Befragten an, für Putin stimmen zu wollen. Eine wirkliche Chance, politisch etwas zu verändern, fehlt somit. Die primäre Aufgabe der Protestbewegung und der durch innere Konflikte geschwächten Opposition wäre es, Schritt für Schritt eine wirksame politische Alternative zum „System Putin“ zu entwickeln. Erst dann könnte das gegenwärtige Kapitel in der postsowjetischen Geschichte Russlands zu Ende gehen.

Zur Autorin


E-Mails an: debatte@diepresse.comAnna Schor-Tschudnowskaja (*1974 in Kiew, aufgewachsen in St. Petersburg) ist Soziologin und Psychologin, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Mitglied der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Zahlreiche Publikationen. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.03.2012)

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