Das letzte Netz: Die Mindestsicherung im Test

Die Armutskonferenz hat getan, was Bund und Länder nicht taten: Sie hat die Landesgesetze der Bedarfsorientierten Mindestsicherung verglichen. Es gibt Verbesserungen, aber viele Probleme bleiben ungelöst.

Es ist still geworden um die Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Im Anschluss an die jahrelangen zähen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern haben alle Bundesländer jeweils eigene Mindestsicherungsgesetze erlassen. Gilt nun: Ende gut, alles gut?

Aus armutspolitischer Perspektive ist die Mindestsicherung nicht irgendeine Sozialleistung. Indem sie die „Sozialhilfe alt“ abgelöst hat, ist sie nun das zweite – und letzte – Netz im österreichischen Sozialstaat. Ihre Aufgabe ist es, ein finanzielles Existenzminimum für all jene sicherzustellen, die durch die Maschen der vorgelagerten Sozialsysteme fallen (allen voran die Sozialversicherung) und ihre Existenz auch nicht ausreichend durch Erwerbsarbeit oder familiäre Hilfe absichern können. Nach ihr kommt nichts mehr.

„Konstruktionsfehler“ mit Folgen

Nach den aktuellsten Daten der Statistik Austria haben 2009 173.817 Menschen in Privathaushalten zumindest einmalig Leistungen aus der (damals noch) Sozialhilfe erhalten. Rund 30 Prozent bezogen auch Familienbeihilfe, waren also mehrheitlich minderjährige Kinder und Jugendliche.

Die Zahl der Bezieher von Mindestsicherung steigt seit Jahren, doch nur die wenigsten leben ausschließlich von ihr: In Wien etwa erhielten 2009 nur 13 Prozent der Empfänger Leistungen in vollem Umfang. Alle übrigen hatten zwar ein Einkommen (Arbeitslosengeld oder Erwerbseinkommen), waren aber dennoch auf aufstockende Leistungen angewiesen, weil es nicht zum Überleben reichte.

Der Mindestsicherung kommt eine zentrale – und in quantitativer Hinsicht zunehmend bedeutsame – Rolle bei der Bekämpfung von Armut in Österreich zu. „Konstruktionsfehler“ müssen deshalb gravierende Auswirkungen haben.

Bund und Länder haben sich in ihren Verhandlungen aber lediglich auf Eckpunkte der Reform geeinigt. Ziel war es, im Rahmen einer Vereinbarung gemeinsame Mindeststandards zu fixieren. Den Ländern stand es frei, großzügigere Regelungen zu beschließen.

Zudem wurde eine Vielzahl von Details in der Bund-Länder-Vereinbarung offengelassen und damit der freien Regelungskompetenz der Länder überantwortet.

Es liegt also nahe zu fragen: Wie haben die Länder die Bestimmungen der Vereinbarung umgesetzt? Haben sie ihre Spielräume zugunsten oder zuungunsten der Anspruchsberechtigten genutzt? Und was haben sie über den Inhalt der Vereinbarung hinaus beschlossen? Bund und Länder lassen zwar Evaluierungsstudien durchführen. Eine qualitative Analyse der einzelnen Länderbestimmungen war aber nie geplant. Deshalb hat die Armutskonferenz nun eine solche Studie vorgelegt.

Harmonisierung misslungen

Die Studienergebnisse zeigen, dass das ursprüngliche Ziel – die Harmonisierung der unterschiedlichen Landesbestimmungen – ein uneingelöstes Versprechen geblieben ist. Die Mindestsicherungsgesetze stehen den Sozialhilfegesetzen in ihrer Uneinheitlichkeit in nichts nach. Deshalb gilt auch weiterhin: Was wem in welcher Lebenssituation zusteht, wird vom Wohnort bestimmt. Das entbehrt sachlich jeder Rechtfertigung.

Zudem ist die Bedarfsorientierte Mindestsicherung weder „bedarfsorientiert“ noch eine „Mindestsicherung“. Sie orientiert sich in ihrer Höhe an der sogenannten Mindestpension und damit an der politischen Armutsgrenze in Österreich. Doch während Mindestpensionisten die Ausgleichszahlung 14-mal jährlich erhalten, sehen die allermeisten Bundesländer keine Sonderleistungen vor. Wo es sie gibt, sind sie niedrig und zudem häufig ausschließlich Kindern vorbehalten.

Vor allem aber ist die Höhe der Ausgleichszulage letztlich willkürlich festgelegt – denn sie kommt ohne Rückbindung an tatsächliche Lebenshaltungskosten aus. Während andere Länder wie etwa Schweden die Höhe der Leistung mittels eines Warenkorbs ermitteln, legt die Bund-Länder-Vereinbarung bloß fest: 25 Prozent der Leistung entfallen auf das Wohnen, die restlichen 75 Prozent auf den sonstigen Lebensbedarf.

Damit ist nichts darüber gesagt, was Menschen zum Leben brauchen. Sondern nur, was ihnen die Politik zuzugestehen bereit ist. Beim Wohnbedarf wird das besonders augenscheinlich: 193 Euro sieht die Bund-Länder-Vereinbarung für eine alleinstehende Person im Jahr 2012 vor. Davon kann man nirgendwo in Österreich Miete und Betriebskosten bezahlen.

Existenzsicherung und Gutdünken

Dennoch nutzten bei Weitem nicht alle Bundesländer die Möglichkeit, die Wohn-Mindeststandards zu überschreiten. Allein Vorarlberg und Tirol übernehmen die tatsächlichen Wohnkosten – freilich innerhalb eines Systems von Höchstgrenzen. Wien, Salzburg und die Steiermark gewähren immerhin zusätzliche Leistungen; alle Übrigen (NÖ, OÖ, Kärnten und das Burgenland) tun das nicht.

Schwer wiegt auch, dass Rechtsansprüche auf Zusatzleistungen für konkrete Notsituationen in fast allen Bundesländern abgeschafft wurden. Wo es weiterhin Ansprüche gibt (Vorarlberg und Tirol) sind sie inhaltlich eng umgrenzt. Deshalb können Antragsteller selbst dort vielfach nur hoffen, dass ihnen das Sozialamt auf Ermessensbasis – und damit letztlich nach Gutdünken – Leistungen gewährt. Der Anspruch der Bund-Länder-Vereinbarung, mit der Mindestsicherung eine „angemessene soziale und kulturelle Teilhabe“ sicherzustellen, bleibt damit eine hohle Phrase.

Knackpunkt Vollzugswesen

Um nicht missverstanden zu werden: Die Mindestsicherung hat auch Verbesserungen gebracht. So werden alle nicht krankenversicherten Bezieher in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen, und Alleinerzieher erhalten höhere Leistungen.

Ob die Verbesserungen in den Gesetzen auch tatsächlich bei den Anspruchsberechtigten ankommen, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Eine Studie der Armutskonferenz aus 2008 zeigt: Nur ein Teil der Mängel des alten Sozialhilfesystems war auf die Gesetze selbst zurückzuführen. Mindestens ebenso bedeutsam war der rechtswidrige Vollzug der Sozialhilfegesetze, der in allen Bundesländern grobe Mängel aufwies.

Im Ergebnis bekamen die Anspruchsberechtigten in vielen Fällen nicht, was ihnen zustand. Es gibt wenig Grund zur Hoffnung, dass sich durch die Reform der Rechtsgrundlagen daran etwas geändert hat. Damit droht die Mindestsicherung über weite Strecken ein Papiertiger zu bleiben.

Es stimmt: Für Existenzsicherung wird im österreichischen Sozialstaat seit Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung mehr ausgegeben als zuvor. Die Mindestsicherung hat auch Verbesserungen gebracht. Aber neben Verbesserungen gibt es auch Verschlechterungen – und viele ungelöste Probleme.

Zur Autorin


E-Mails an: debatte@diepresse.comMartina Kargl ist Politologin, sozialpolitische Referentin der Caritas Wien und Mitglied im Koordinationsteam der „Armutskonferenz“. Sie arbeitet als Grundlagenforscherin zu sozial-, arbeitsmarkt- und armutspolitischen Fragen. An der Durchführung der besprochenen Studie war sie maßgeblich beteiligt. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2012)

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