Von Moskau bis Rio: Die Rebellion des unzufriedenen Mittelstands

Die Volksaufstände in Russland, der Türkei und Brasilien hatten unterschiedliche Auslöser. Aber auch zahlreiche Ähnlichkeiten.

Russland ab Dezember 2011, die Türkei ab Ende Mai 2013, im Juni dann Brasilien: In drei Ländern, die auch wegen ihrer Größe und ihrer wachsenden wirtschaftlichen Potenz zu den immer wichtigeren Akteuren auf der Weltbühne gehören, kam es ziemlich unvermittelt zu größeren Aufständen in den großen Städten. Unmittelbar ausgelöst wurden die Massenproteste dabei von unterschiedlichen Dingen: dreiste Wahlfälschungen in Russland, Bulldozer-Modernisierung in der Türkei, Fahrpreiserhöhungen für öffentliche Verkehrsmittel in Brasilien. Auch die politischen Kulturen, die sozialen Strukturen und die religiösen Hintergründe in den drei Ländern sind verschieden.

Doch die drei Protestbewegungen hatten und haben auch zahlreiche Ähnlichkeiten: Ihre treibenden Kräfte waren vor allem jüngere Leute aus dem Mittelstand – keine wütenden Arme also, sondern unzufriedene Wohlhabende. Ähnlich ist auch die Motivlage der Demonstranten in den drei Ländern: Sie haben die Nase voll von staatlicher Bevormundung und versuchter Kontrolle möglichst vieler Lebensbereiche der Bürger. Gerade in Russland und der Türkei geht das einher mit der Pflege eines peinlich-penetranten Personenkults rund um den jeweiligen Führer – Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan – durch meist staatlich kontrollierte Medien.

Brasilien ist da doch etwas anders, wie Janna Greve in ihrem Aufsatz „Volksaufstand statt Fußballfest“ in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ (8/2013) herausarbeitet. So hat die dortige Präsidentin Dilma Rousseff die Zeichen an der Wand erkannt und sich mit Repräsentanten der Protestbewegung zusammengesetzt, um nach Lösungen für gesellschaftliche Missstände zu suchen. Im Gegensatz zur brasilianischen Präsidentin fiel Putin und Erdogan als Reaktion auf die Protestwellen stets nur ein, die Demonstranten wüst zu beschimpfen und als vom Ausland aus gesteuert zu verunglimpfen.

Die brutale Gegenwehr der Herrschenden in Russland und in der Türkei mit Hilfe monströser Sicherheitsapparate hat dazu geführt, dass sich nicht mehr so viele Unzufriedene auf die Straße wagen. Viele Demonstranten in beiden Ländern sitzen im Gefängnis oder wurden zu hohen Geldstrafen verdonnert. Die scharfe Repression beseitigt jedoch nicht die Ursachen des Unmuts in der Mittelschicht der beiden Länder. Irgendwann, irgendwo wird sich die Unzufriedenheit dieser Schicht wieder ein Ventil suchen. Dilma Rousseff scheint den klügeren Weg gewählt zu haben, um den politischen und sozialen Sprengstoff in ihrem Land vor den kommenden sportlichen Großereignissen – Fußball-WM 2014, Olympische Sommerspiele 2016 – zu entschärfen als Putin und Erdogan.

In der in Krakau erscheinenden Zeitschrift „New Eastern Europe“ (3/2013) führt Filip Mazurczak bittere Klage darüber, dass US-Präsident Barack Obama im Gegensatz zu seinem Vorgänger George Bush jun. keinerlei Interesse für die Länder Mittel- und Osteuropas mehr zeige. Dadurch werde die wirtschaftliche Kooperation immer schwächer und die USA verlören wichtige Partner, um die Demokratisierung im postsowjetischen Raum voranzutreiben. Der Essay wurde vor der NSA/Snowden-Affäre geschrieben. Seit dieser Affäre aber ist die von Mazurczak behauptete Liebe zwischen Westeuropa und Obama weitgehend erkaltet. Was Mazurczak auch entgangen sein dürfte: Obamas Desinteresse betrifft nicht nur Mittel- und Osteuropa, sondern Europa insgesamt hat in der US-Außenpolitik an Stellenwert verloren. Die Musik in der Weltpolitik spielt eben in Asien?

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.