Wie Putin der Ukraine bei der nationalen Konsolidierung hilft

Die europäische Revue "Transit" widmet ihr neuestes Heft ganz den Ereignissen in der Ukraine seit Herbst 2013.

Die Amerikaner hielten die Dinge in Europa eigentlich für weitgehend geregelt, die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten mit dem permanenten Chaos in Teilen der arabischen Welt sowie die Unwilligkeit der Akteure, den israelisch-palästinensischen Konflikt endlich nachhaltig zu lösen, ermüdeten sie immer mehr. Sie wollten sich deshalb verstärkt dem pazifischen Raum zuwenden, dort, wo die Zukunftsmusik spielt. Denkste! Die Amis machten die gewünschte geopolitische Umorientierung ohne Putin. Und natürlich ohne die Terrormiliz Islamischer Staat.

Mit der völkerrechtswidrigen Annektierung der Halbinsel Krim im Frühjahr und dem Entfachen einer separatistischen Bewegung in der Ostukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin die USA gewissermaßen wieder nach Europa zurückgepfiffen. Auf einmal schauen sich die US-Strategen ihre Stützpunkte und militärischen Fähigkeiten in Europa wieder genau an, überlegen, wie die Ostflanke der Nato verstärkt werden könnte. Kaum anzunehmen, dass sich Putin die neue amerikanische Aufmerksamkeit für die europäischen Angelegenheiten wirklich so gewünscht haben wird.

Inzwischen widmen sich bereits mehrere politische Fachzeitschriften den Ereignissen in der Ukraine und zeichnen das dortige Geschehen seit Herbst 2013, soweit es erfassbar ist, hintergründig nach. Praktisch druckfrisch ist die Nummer 45 der europäischen Revue „Transit“, die vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen herausgegeben wird. 180 Seiten geballte Informationen und Analysen zum Leitthema „Maidan: Die unerwartete Revolution“. Überwiegend ukrainische Autorinnen und Autoren bewerten den Lauf der Dinge, leuchten auch Nischen aus, die in der aktuellen Ukraine-Berichterstattung zu kurz gekommen sind: zum Beispiel die Rolle der Kirchen, das Treiben der hinter den Kulissen die Fäden ziehenden Oligarchen, die Ereignisse in Odessa.

Gastherausgeberin des Hefts ist Tatiana Zhurzhenko. Sie ist eine Expertin für die Ostukraine und forscht schon seit Langem zur vermeintlichen beziehungsweise tatsächlichen Spaltung der Ukraine. Sie hat auch für dieses Heft einen der interessantesten Aufsätze beigesteuert, untersucht die Identitätssuche im Osten des Landes im Licht des aktuellen Geschehens und glaubt: Die russische Aggression gegen die Ukraine könne sogar zu einem „Katalysator für die Bildung der politischen Nation“ werden. Denn: „Die ukrainische Identität, die so lange mit Ethnizität, Sprache und historischem Gedächtnis assoziiert wurde, ist plötzlich territorial und politisch geworden.“ Gerade auch die kollektive Demütigung, die die Ukraine durch den territorialen Verlust der Krim erfahren habe, sei zu einem „Faktor der nationalen Konsolidierung geworden“. Wenn das stimmt, haben wir eine weitere Entwicklung, die Putin mit seinem Vorgehen gegen die Ukraine sicher nicht bezweckt hat.

Zhurzhenkos gar nicht so pessimistischer Ausblick: „Der anhaltende Krieg im Donbas wird tiefgreifende und nachhaltige Folgen für die Region haben. Er hat in einem Teil der dortigen Bevölkerung die bestehenden anti-ukrainischen Ressentiments sicherlich verschärft, er hat andere Teile aber auch gelehrt, Sicherheit, Stabilität und starke staatliche Institutionen schätzen zu lernen. Falls es der Regierung in Kiew, vereint mit Armee und Polizei, gelingt, die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten, könnte dies ein erster Schritt auf dem langen Weg zur Wiedereingliederung des Donbas in die Ukraine sein.“

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2014)

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