Das lange Warten auf den Befreiungsschlag in Österreich

Ein Wirtschaftskorrespondent zieht eine vernichtende Bilanz seiner zwölfjährigen Beobachtungen in Wien.

Wir haben in dieser Kolumne schon einmal über die ausgesprochen erhellende Tradition der „Neuen Zürcher Zeitung“ berichtet, ihre Korrespondentinnen und Korrespondenten zum Abschluss ihrer Beobachtertätigkeit auf einer Seite ihre Eindrücke über ein Land zusammenfassen zu lassen. Meistens kommen da sehr instruktive Texte heraus (eigentlich sollte der NZZ-Verlag diese Bilanzen einmal in einer Publikation zusammenfassen).

Matthäus Kattinger war seit 2002 Wirtschaftskorrespondent der NZZ in Wien. Zum Jahreswechsel ging er in Pension – und auch er hat seine Beobachtungen aus zwölf Jahren zusammengefasst. Gut, er ist kein Schweizer, sondern Niederösterreicher. Aber gestehen wir ihm zu, dass er die Dinge hierzulande mit den Augen eines neutralen Chronisten wahrgenommen hat. Wie auch immer, sein Urteil fällt vernichtend aus: Er schreibt von „System-Versagen“, das schon damit beginne, dass „zu viele der handelnden Personen im System Österreich überfordert bzw. schlicht ungeeignet sind“. Das sei nicht weiter verwunderlich, weil „Spitzenpositionen nicht mit Bedacht auf die Interessen des Landes, sondern nach parteipolitischen Verdiensten, regionalen und Geschlechterquoten besetzt“ würden.

Seit der Rückkehr der Großen Koalition 2007 verliere Österreich „in fast allen Vergleichen von Standort und Wettbewerb kontinuierlich an Boden“. Die Inflation steige, die Arbeitslosigkeit wachse, der Mangel an Facharbeitern werde gravierender, gleichzeitig machten sich immer mehr Uni-Absolventen aus dem Staub. Kattinger schreibt, seit der Übernahme der Kanzlerschaft durch Werner Faymann 2008 sei es mit dem Gestaltungswillen vorbei: „Seither ist alles dem Machterhalt untergeordnet.“ SPÖ und ÖVP seien inzwischen vornehmlich damit „beschäftigt, Einflussbereiche und Besitzstände ihrer Klientel durch Reformverweigerung zu sichern. Weltmeister sind Österreichs Parteien nur bei den sich selbst zugestandenen Förderungen – von zuletzt 205 Millionen Euro (2014).“

Kattingers Prognose zur Steuerreform lautet: „Es ist zu befürchten, dass von der angekündigten Systemreform bloß eine (wiewohl überfällige) Steuerentlastung mit marginalen Kürzungen bei Ausgaben, dafür aber neuen bzw. höheren Steuern bleibt.“ Aber: „Ohne grundlegende Erneuerung des politischen Systems ist die erreichte Position mittelfristig nicht zu halten. Österreich braucht einen personellen, moralischen und institutionellen Befreiungsschlag...“

Ähnlich haarsträubend wie Kattingers Befund über Österreichs Selbstblockade fällt das Urteil des freien Publizisten Wolf Reiser über den Zustand des Journalismus in der Bundesrepublik Deutschland in der jüngsten Ausgabe von „Lettre international“ aus. Von „Zähmung, Verwahrlosung und Niedergang des Journalismus“ ist da die Rede, vom schmaler werdenden Meinungskorridor und vom stärker werdenden Konformitätsdruck („gefragt sind Getreue, Vasallen, Verlagssoldaten, die sich selbst ihre Frisur am jeweiligen Chefdesign abschauen“); von der „betrüblichen Selbstzentrierung“ der Redaktionsleiter gerade linker Medien.

Reiser geht dabei nicht nur mit der Printbranche scharf ins Gericht: „Indessen bestimmt der durch den Online-Journalismus bedingte schleichende kollektive Abbau von Mitgefühl und Reflexion den aktuellen Diskurs, und so schlägt die Stunde der Trolle auf allen Ebenen.“ Vieles in Reisers erbarmungsloser Abrechnung erklärt sich wohl durch die Frustrationen des freien Journalisten im heutigen Mediengeschäft. Das heißt freilich nicht, dass er mit seiner Kritik am heutigen Journalismus so falsch liegen würde...

Emails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2015)

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