Ist Südamerikas Ära von Gewalt und Gegengewalt Geschichte?

Das 20. Jahrhundert verlief auch auf dem Landkoloss zwischen Karibik und Feuerland besonders blutig.

Der letzte Satz im Artikelteil des neuesten Heftes des Geschichtsmagazins „Geo Epoche“ (Nr. 71) lautet: „In Südamerika, so scheint es, ist die Zeit von Gewalt und Gegengewalt endgültig vorbei.“ Wenn auch vorsichtig formuliert, ist diese Aussage doch gewagt. Immerhin, verglichen mit dem blutigen 20. Jahrhundert ist die heutige Lage in Südamerika, dessen Geschichte sich dieses Geo-Heft widmet, tatsächlich weitestgehend stabil. Es waren dabei weniger zwischenstaatliche, sondern vor allem innere Kriege, die eine entsetzlich hohe Zahl an Todesopfern forderten: Liberale gegen Konservative, Rechte gegen Linke, Militärs gegen Aufständische, Paramilitärs gegen Zivilisten, Besitzende gegen Habenichtse.

In den 1950er-Jahren wurden allein in Kolumbien 200.000 Menschen Opfer politischer Gewalt, wie es in dem lesenswerten Beitrag über Gabriel García Márquez' Jahrhundertroman „Hundert Jahre Einsamkeit“ heißt, in dem Literaturkritiker die ganze Geschichte des Kontinents widergespiegelt sehen. Etwa 70.000 Menschenleben forderte der Krieg, den die maoistische Untergrundtruppe „Leuchtender Pfad“ in den 1980er-Jahren den Machthabern in Peru aufzwang. Auch der wird in dem Heft instruktiv nacherzählt.

Zwischen 9000 (nach offiziellen Angaben) und 30.000 Todesopfer (laut Menschenrechtsorganisationen) forderte das Vorgehen der argentinischen Militärjunta gegen linke Oppositionelle sowie alle, die sie dafür hielten, von 1976 bis 1983. Viel zu viele jedenfalls, aber immer noch weniger, als General Menédez zu Beginn des „Feldzugs gegen die Linke“ angekündigt hatte: „Wir werden 50.000 Menschen töten: 25.000 Subversive, 20.000 Sympathisanten, und wir werden 5000 Fehler machen.“ Eine Textcollage zeichnet die damaligen Ereignisse in Argentinien nach – Folterungen, Gefangene, die aus Militärflugzeugen ins Meer geworfen wurden, den Raub von Neugeborenen inhaftierter Regimegegnerinnen, die dann Soldatenfamilien zur Adoption übergeben wurden. Gelungen sind in dem Heft auch die Porträts von Simón Bolívar und dessen geplatztem Traum von einem befreiten und geeinten Südamerika; sowie von Che Guevara, der nach seiner Tötung im bolivianischen Urwald zu einer heiligengleichen Ikone der Linken der ganzen Welt wurde.

Nicht zuletzt war es auch die Machtübernahme linkspopulistischer Politiker – Hugo Chávez machte 1998 in Venezuela den Anfang –, die zur Austrocknung linker Guerillabewegungen führte. Möglicherweise aber neigt sich auch die Blütezeit linksgerichteter Regierungen auf dem Kontinent allmählich dem Ende zu.

Das US-Zeitgeschichtsmagazin „Current History“ sieht in seinem Lateinamerika-Heft (2/2015) für einige der linksorientierten Führungsfiguren des Kontinents das Ende heraufdämmern: biologisch für die Castro-Brüder auf Kuba; der uncharismatische Nachfolger von Hugo Chávez, Nicolas Maduro, ist gerade dabei, das Erbe seines verstorbenen Vorgängers – den „Chavismus“ – zu verspielen; Cristina Fernández de Kirchner, die argentinische Präsidentin, steht innenpolitisch wegen des Todes von Staatsanwalt Alberto Nisman im Jänner und wegen der sich ständig verschlechternden Wirtschaftslage unter Druck; auch ihrer erst 2014 wiedergewählten brasilianischen Kollegin Dilma Rousseff weht innenpolitisch wegen diverser Korruptionsfälle eisiger Wind ins Gesicht. Es kann wieder spannend werden zwischen Karibik und Feuerland. Und nur gut, wenn Fachzeitschriften den Blick der europäischen Nabelschauer auch in Weltgegenden lenken, in die sie sonst kaum schauen.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2015)

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