"Meister Yoda" des Pentagons hält nicht so viel von den Europäern

Der Vordenker des US-Verteidigungsministeriums ging nach 42 Jahren in Pension und gab noch einmal ein Interview.

Der Mann arbeitete 42 Jahre im Pentagon. In einem nicht allzu großen Büro in dem Monstergebäude, als Chef einer Abteilung mit einer Handvoll Mitarbeitern, dachte er über drohende Gefahren und künftige Herausforderungen für die Sicherheit der Vereinigten Staaten nach. „Office for Net Assessment“ – so in etwa „Büro für nüchterne Einschätzungen“ – lautet der eher kuriose Name dieser Abteilung. Den Abteilungsleiter nannten sie in den Fluren des Ministeriums ehrfurchtsvoll „Meister Yoda“, nach der kleinen, weisen Figur aus dem Hollywood-Blockbuster „Star Wars“.

Andrew Marshall ist Anfang dieses Jahres 93-jährig in Pension gegangen. Am meisten Einfluss im Pentagon hatte er wohl, als seine Schüler Dick Cheney, Donald Rumsfeld oder Paul Wolfowitz dort Spitzenpositionen einnahmen. Aber auch Verteidigungsminister aus dem demokratischen Lager hörten sich seine Analysen an. Wobei wohl erst künftige Historiker einmal herausfinden werden, ob Marshalls Einschätzungen und Prognosen zutreffend waren, zumal die meisten seiner Papiere als geheim eingestuft sind.

Marshall wird vor allem mit dem Akronym RMA aus den 1980ern in Verbindung gebracht. Es steht für „Revolution in militärischen Angelegenheiten“, das gleichzeitige Aufeinandertreffen von neuen Technologien, neuen Doktrinen und neuen Operationskonzepten beim Militär. Wobei die Erfinder des RMA-Konzepts die Sowjets gewesen sein sollen, wie der „Economist“ süffisant anmerkte. Aber Tatsache bleibt, dass vor allem Russen und Chinesen alles, was sie von Marshalls Schriften in die Hände bekamen, akribisch studierten.

Der US-Zeitschrift „The American Interest“ hat der medienscheue Marshall nun ein Interview gegeben. Allzu viel von sich und seinem Werk gibt „Meister Yoda“ da nicht preis, zumal die meisten Fragen des Interviewers viel länger als die Antworten des Interviewten sind. Immerhin berichtet Marshall, dass er seine Chefs im Pentagon schon 1987/1988 darauf hingewiesen habe, dass die Sowjets am Ende seien und sie sich dafür die Entwicklung Chinas genauer anschauen müssten, dass die Europäer für die USA keine große Hilfe darstellten – zwar wirtschaftlich wichtig, aber geopolitisch untergewichtig – und dass sich die USA viel stärker auf Asien konzentrieren und sich dort nach neuen Verbündeten umschauen müssten.

Afghanistan und seinen Nachbarn widmet „Edition Le Monde diplomatique“ sein neuestes Sonderheft. Während sich das westliche Interesse gerade auf die Zerfallsprozesse in der arabischen Staatenwelt mit Bürgerkriegen in Syrien, im Irak, in Libyen und im Jemen konzentriert, bleibt der gesamte südwestasiatische Raum ein riesiger Unruheherd, der schon jetzt nach Europa, ja in die ganze Welt ausstrahlt. Sei es etwa, weil wir inzwischen auch in Österreich die wachsende Zahl von Flüchtlingen aus Afghanistan oder Pakistan zu spüren bekommen, sei es, weil auch in dieser Region der innerislamische Fundamentalkonflikt zwischen Sunniten und Schiiten jederzeit und mit voller Wucht ausbrechen kann, sei es, weil hier die Interessen der meisten großen und regionalen Mächte aufeinanderprallen: jene der USA, Chinas, Russlands, Indiens, Pakistans, des Iran und Saudiarabiens – also gleich von fünf Atommächten.

All diese Konflikte und Bruchlinien in und um Afghanistan werden in diesem Heft von europäischen und asiatischen Experten in instruktiven, gut lesbaren Aufsätzen seziert. Die Kernbotschaft darin: Die ganze Region wird uns noch sehr, sehr viel beschäftigen.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2015)

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