Die Ängste der Nachbarn vor Putins Macho-Russland

Der Nato-Gipfel nächste Woche wird zeigen, wie vergiftet das Verhältnis zu Moskau ist. Ein neues Wettrüsten steht bevor.

Vergangene Woche, am 75. Jahrestag des Überfalls Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion, offenbarte der russische Präsident, Wladimir Putin, sein eigenartiges Geschichtsverständnis. Wie der Westen schon 1941 die sowjetischen Warnungen vor Adolf Hitler ignoriert habe, weise er auch heute alle Angebote Moskaus zum gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus zurück: „Im Gegenteil, die Nato intensiviert ihre aggressive Rhetorik und ihre aggressiven Handlungen in der Nähe unserer Grenzen.“ Nur, wer hat da welche Warnungen ignoriert? Hat Stalin im Frühjahr 1941 etwa die Warnrufe aus London oder die Alarmmeldungen seines Topspions in Tokio über einen unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriff ernst genommen? Und wer unternimmt aggressive Handlungen an der Grenze? Hat die Nato etwa schwer bewaffnete hybride Krieger in die Region Pskow geschickt – oder Russland aggressive grüne Männchen auf die Krim und in die Ostukraine?

Solche historischen Entstellungen und Umdeutungen der Realität dienen vor allem einem Zweck: das Feindbild Westen/USA/Nato/EU in immer schärferen Konturen zu malen. „Russland hat begonnen, die übrige Welt als Antiwelt zu sehen“, sagte der Moskauer Philosoph Alexander Zipko in einem äußerst lesenswerten Interview im „Spiegel“ (Nr. 23/2016). Und Zipko meint ernüchtert: „Wir haben nur noch Feinde an unserer Peripherie.“

In der polnischen Fachzeitschrift „New Eastern Europe“ (3/4 2016), die ihre neuste Ausgabe dem nächste Woche stattfindenden Nato-Gipfel in Warschau widmet, beklagt auch der US-Diplomat und stellvertretende Nato-Generalsekretär Alexander Vershbow: „Die Russen haben sich entschieden, die Nato als Gegner und als potenzielle Bedrohung zu sehen. Sie glauben wirklich daran, dass das Fundament der europäischen Sicherheit Einflusssphären und nicht souveräne Staaten bilden sollten. Sie reden viel über die Souveränität Russlands, doch die Souveränität ihrer Nachbarn scheint sie nicht zu kümmern.“ Der polnische Sicherheitsexperte Dominik P. Jankowski assistiert: „Durch die Anwendung militärischer Gewalt gegen die Ukraine (wie 2008 gegen Georgien) hat Russland ein klares Statement abgegeben: Kleinere, schwächere Staaten haben nicht das Recht, ihre eigene Zukunft zu entscheiden. Dieses Recht hat nur eine kleine Gruppe mächtiger Staaten.“

Längst ist das Klima zwischen Russland und dem Westen vergiftet – und wenn es insbesondere deutsche Sozialdemokraten sowie Links- und Rechtspopulisten in ganz Europa auch nicht wahrhaben wollen: Die östlichen Nato-Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien haben wirklich Angst vor Putins Macho-Russland. Genauso, wie Finnland und Schweden sich ängstigen und dort wieder vermehrt Überlegungen über einen eventuellen Nato-Beitritt angestellt werden. Ihre Ängste lassen sich diese Länder von den Putin-Verstehern allerorten sicher nicht ausreden.

In den USA wiederum sieht sich das Sicherheitsestablishment durch das aggressive Vorgehen Russlands wie auch Chinas in der jeweiligen Nachbarschaft zunehmend herausgefordert, wie ein Beitrag in der Sommerausgabe der Zeitschrift „The American Interest“ exemplarisch zeigt (Titel: „Druck auf die Peripherien“). Die Empfehlungen der Autoren sind spiegelbildlich die russischen Gegenmaßnahmen: Neuaufstellung des Allianzsystems (Russland hat freilich kaum Verbündete), Aufrüstung der Alliierten unmittelbar an der „Front“ (Polen, Japan), Modernisierung des eigenen US-Atomarsenals. Heißt wohl: Willkommen zurück in der Zeit des Wettrüstens!

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.