Verwelkende Sozialdemokratie: Allerorten die große Ratlosigkeit

Aus der akademischen Welt kommen recht seltsame Empfehlungen, wie der Niedergang zu stoppen wäre.

Ende, Niedergang, Abstieg, Verwelkung, Selbstschwächung: Es gibt in Zeitungen und Magazinen derzeit keinen Artikel oder Kommentar über den Zustand der Sozialdemokratie in Europa, in dem nicht eines oder gleich mehrere Untergangssubstantive vorkommen würden. Und tatsächlich: Es steht nicht gut um die sozialdemokratischen Parteien, die über ein Jahrhundert lang ganz wesentlich die Politik in Europa geprägt haben.

Aber heute? Die einst so mächtige deutsche Sozialdemokratie dümpelt unter ihrer trägen Führung bei 20 Prozent Wählerzustimmung; die Labour Party zerfleischt sich zwischen linken Nostalgikern und verzweifelten Realisten; die französischen Sozialisten müssen 2017 mit einer überaus schmerzhaften Ohrfeige der Wählerschaft rechnen; die einstigen skandinavischen Trendsetter unter den gemäßigten Linken sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst, was auch für Spaniens Sozialisten gilt. Und die SPÖ, die seit Jahrzehnten die Geschicke Österreichs mitbestimmt? In den Bundesländern weitgehend abgemeldet, in Wien bei der jüngsten Wahl mit einem blauen Auge gerade noch davongekommen, steuerte sie im Frühjahr schnurstracks auf eine Wand zu. Nun versucht eine neue Parteiführung, das Steuer noch herumzureißen.

Wenn man sich in diversen Magazinen jedoch anschaut, was Leute der akademischen Welt so an Rezepten für die Sozialdemokratie zur Überwindung ihrer Krise parat haben, zeigt sich die große Ratlosigkeit allerorten. „Das Ende ist nicht nah“, schreibt etwa der Politologe Patrick Diamond von der Londoner Queen Mary University im Berliner Magazin „Internationale Politik“ (4/2016). Der Niedergang der Sozialdemokratie sei nicht unumkehrbar – dann fallen ihm doch nur Uralttherapien ein: „Mehr denn je muss die Linke heute ihren wirtschaftspolitischen Ansatz überdenken, um einen faireren, widerstandsfähigeren und nachhaltigeren Kapitalismus zu schaffen. Dabei muss die Behauptung, dass Regierungen sich nicht in die Märkte einmischen sollen, klar widersprechen.“

Genau vor solchen Ansätzen zur Überwindung der Sinnkrise raten Kommentatoren der „Neuen Zürcher Zeitung“ den Sozialdemokraten dringend ab: nämlich einer Politik des Mehr, Mehr und Noch-Mehr, des reflexartigen Griffs in die Staatskasse: „Die Politik der vollen Kassen ist sozialdemokratisches Programm. Aber woher das Geld kommt, das ist den Genossen letztlich egal.“

In der Juli-Ausgabe des Berliner Magazins „Cicero“ bezeichnet der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin den „sozialen Ausgleich nach innen, internationale Solidarität nach außen und Bereitschaft, globale Institutionen zu etablieren, die das Chaos bändigen“ als Kernagenda sozialdemokratischer Politik. Und: „Eine sozialdemokratische Politik würde die Neuordnung der Weltwirtschaft in den Rahmen der Vereinten Nationen stellen.“ Das klingt so, ob der Professor den ganzen Verwelkungsprozess noch etwas beschleunigen wollte. Immerhin ist seine Festellung, dass der innere Personalwechsel in sozialdemokratischen Parteien für die jetzige Krise mitverantwortlich sein könnte, höchst interessant: Marxistisch geschulte 1968er-Aktivisten hätten die Genossen aus der Arbeiterschaft und dem kleinbürgerlichen Milieu in den sozialdemokratischen Parteien allmählich verdrängt, so hätten diese Parteien ihre engen Bindungen an traditionelle Wähler verloren. Da ist viel Wahres dran. In das entstehende Vakuum stießen rechtspopulistische Parteien. Der ganze Prozess ist nach wie vor im Gange . . .

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2016)

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